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Hearing zum Gerichtesterben erweist sich als Absturz für Pläne des Justizministers

Wiesbaden, Marburg 10.8. 2011 (yb) Am Anfang sah alles nach einer sicheren Bank für Minister Jörg-Uwe Hahn aus. Der Hessische Minister für Justiz, Integration und Europa und Landesvorsitzende der FDP war persönlich erschienen zur Anhörung im Rechtausschuss. Begleitet von seinem Staatssekretär Rudolf Ernst Carl Kriszeleit, auf dem Foto links, saß er vor Kopf im Sitzungssaal. Dass sich im Lauf des Tages mit stetig wachsender Zahl kritisch-ablehnender Beiträge – zu bereits weit fortgeschrittenen Planungen in Hessen 10 Amtsgerichte und Arbeitsgerichte zu schließen – das Blatt gegen Hahn wenden würde, war nicht vorhersehbar.

Warnzeichen in Oberhessischer Presse 

Dabei hätte dem Minister und seinen Gefolgsleuten der Aufmacher in der Oberhessischen Presse (OP) vom Dienstag, 9. August 2011, zu denken geben können und müssen. Die der Hessischen Landesregierung nicht gerade sonderlich ablehnend oder gar feindlich gesonnene Tageszeitung aus Marburg brachte das Thema und Problem als Aufmacher. „Aktionsbündnis: Rechtsfrieden ist in Gefahr“ gab es als Überschrift auf der Titelseite zu lesen. Nicht genug alleine damit. Die Redaktion der OP  stellte zusätzlich eine ganze Seite zusammen mit Auszügen aus schriftlichen Stellungnahmen eingeladener Experten, die vorab eingesendet worden waren. Die geradezu einhellige Ablehnung der Pläne aus dem Justizministerium war also nicht bekannt, sie war – jedenfalls in Marburg und aus Marburg – vorab und unübersehbar als breites und bestens begründetes Votum gesondert publiziert worden.


Lediglich die Eingabe des Wortes >Gerichtesterben< im Suchen-Feld bei Google durch den Minister oder einen seiner PR-Berater hätte genügt und die Herren aufschrecken müssen. Der Sturm der Entrüstung bildet sich längst im Internet ab. Dort finden sich Unterstützer und Aufrufe für Unterschriftenlisten und vieles mehr.

199 Seiten Einwendungen aus dem gesamten Hessenland

Als die ersten Marburger gegen 9.30 Uhr am Mittwoch den noch leeren Sitzungssaal betraten, lag dort auf drei hohen Stapeln ausgedruckt, was mit viel Sachkompetenz und Mühe zumeist Juristen ganz verschiedener Herkunft und Werdegangs zuvor niedergeschrieben und übermittelt hatten. Ausgedruckt auf 199 Seiten lag es also auch schwerwiegend auf dem Tisch, war dem Minister und Ministerium bekannt.

So saßen denn zusammen, die gemeinsam mobil gemacht hatten an einer mittleren Tischreihe, als Ausschussvorsitzender Blechschmidt das denkwürdige Hearing eröffnete. An äußeren Tischreihen gegenüber waren die Plätze der Auschussmitglieder von CDU und FDP auf der einen Seite und SPD, GRÜNEN und LINKE auf der anderen Seite des Saales. Scheinbar ungerührt vor Kopf saß der Minister, ihm zur Seite sein Staatssekretär. Dazu kamen etwa 50 Besucher, für die Stuhlreihen sogar weit hinten aufgestellt werden mussten. Das Geschehen nahm seinen Lauf.

Rund drei Stunden dauerte der erste Teil der Expertenanhörung. Rechtsanwälte kamen zu Wort und trugen ihre Bedenken vor, Sprecher der Initiativen aus Marburg, Schlüchern und Usingen. Aus Nidda war eine große Delegation gar mit eigens gechartertem Bus angereist und verlieh – wider die Ansage des Auschussvorsitzenden – immer wieder mit Beifall oder lautem Klopfen ihrem Unmut Ausdruck. So war zur Mittagspause in beeindruckender Weise im Gebäude des Hessischen Landtags unüberhörbar geworden, dass es massenhaft Proteste gegen vorgebliche Sparpläne gibt, ob ganz aus dem Norden Hessens, aus dem Taunus oder aus Osthessen.

Kurz nach Fortsetzung der Anhörung nach der Mittagspause wurde im Saal bekannt, dass bereits Pressemitteilungen unterwegs waren. SPD und GRÜNE waren aktiv geworden, für die CDU wollte deren rechtspolitischer Sprecher Honka da nicht hintan stehen und versuchte dem unter schweren Beschuss stehenden kleinen Koalitionspartner zur Seite zu springen. Gleich drei Pressemitteilungen schon versendet und die Anhörung noch im Gang – das musste stutzig machen. Spätestens damit war offenbar, dass hier keinesfalls ein pure Alibi-Veranstaltung stattfinden konnte.

Zudem steht eine zweite Lesung erst noch an und als Folge der breiten Protestbewegung hatte der Rechtsausschuss eingeladen – es damit für unabweisbar gehalten, dass Bürgern, Betroffenen und den für Ausstattung und Erhalt eines demokratischen Rechtsstaates sehr zahlreich Engagierten ein gebührendes Forum zu geben sei.

Bürgermeister, Oberbürgermeister, Gerichtspräsidenten und drei Richtervereinigungen

Zuhörer hatten es nicht leicht. Es war Hard Stuff, der vorgetragen wurde, zudem für die weit hinten Sitzenden akustisch nur schwer zu hören. Ob ‚Verkürzung des Rechtsgewährungsanspruch‘ oder ‚Ultima-Ratio-Prinzip‘, in Wiesbaden war an diesem Mittwoch nicht nur eine geballte juristische Kompetenz des Landes Hessen versammelt.  Hard Stuff wurde es dann immer mehr für Justizminister Hahn, seinen Staatssekretär, nicht weniger für die Abgeordneten der Regierungskoalition von CDU und FDP.

Der Nachmittag gehört weitgehend Vertretern der betroffenen Städte, darunter Marburg als einzige betroffene Universitätsstadt mit namhafter juristischer Fakultät – und damit Juristenausbildung – die bei einer Verlagerung des Arbeitsgerichtes nach Gießen geschwächt und behindert würde. Bürgermeister Franz Kahle unterlies es nicht auch diesen Umstand mahnend zu Gehör zu bringen.

Als dann der Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt (OLG) eine Einschätzung zum Sparvorhaben der Pläne aus dem Justizministerium vortrug, sah es einen kurzen Moment nach einer Wendung aus. Die Phalanx der Kritiker der geplanten und schon weitgehend vorbereiteten Gerichteschließungen – bis hin zu einem bereits geschlossenen langfristigen Mietvertrag für ein gedachtes künftiges ‚Mittelhessisches Arbeitsgericht‘ in Gießen in Verdrängung der Arbeitsgerichtsbarkeit aus Wetzlar und Marburg – war zunächst einmal durchbrochen. Hier und dort war Erleichterung auf manchen Gesichtern unübersehbar. Doch das währte nur kurze Zeit, wie sich bald zeigen sollte.  

Sprecher von gleich drei Richtervereinigungen kamen zu Wort und es erhob sich kein Widerspruch als der Vertreter von ver.di (Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen) feststellte, dass bei so manchen Unterschieden der organisierten Richterschaft in dieser Frage jedenfalls völlige Überstimmung herrsche und die geplanten Schließungen an 10 Standorten einmütig abgelehnt werde („Justiz ist ein Standortfaktor“ hatte Dr. Ursula Goedel, Vorsitzende des ‚Landesverband Hessen im Deutschen Richterbund‘ geltend gemacht).

So kam, was kommen musste. Der Direktor des Landesrechnungshofes*** hatte vorgetragen und hatte dann Fragen von Landtagsabgeordneten beantwortet, aus denen vertiefend erhellte, dass von Seiten seines Hauses keinesfalls Entlastung oder gar Anleitung für das Vorhaben des Justizministeriums gekommen sei (*** es folgt ein späterer Bericht dazu).

In zahlreichen Beiträgen hatten Anwälte, Richter und Personalräte immer wieder – mit Zahlen schlüssig untermauert und unter Verweis auf vorhergehende Erfahrungen mit gescheiterter „Verwertung“ landeseigener freigewordener Immobilien aufzeigen können, dass die behaupteten Sparabsichten des Ministeriums keiner ernsthaften Überprüfung Stand halten können.

Kostensenkungsargument als Chimäre entlarvt

So hatte sich im Verlauf der Anhörung eine Beweislast immer mehr und zwingend zu Lasten des Justizministeriums gewendet. Verkündete unabweisbare Sparzwänge (Schuldenbremse, hoher Schuldenstand des Landes Hessen) im Verlauf der ‚Kampagne‘ zu einer kaltschnäuzigen Durchsetzung gewollter Gerichtsschließungen hatten längst offenbar werden lassen, dass hier ein Phantom gejagt werden sollte. Das Hearing entlarvte dies vollends als durchsichtige Taktik seitens der Exekutive zu Lasten von Judikative und Legislative.

Schließlich sprach der Direktor des von Schließung und Verlagerung nach Büdingen bedrohten Amtsgerichts in Nidda von einer „nicht substantiierten Entscheidung“ – als Vorwurf umso schwerer wiegend, weil das Justizministerium in Hessen zugleich das Integrationsministerium ist. Viele, zahllose Menschen mit chronischer Krankheit, auf Betreuung Angewiesene, Alte und Geringverdiener wären und würden zu den Verlierern, war auch vorher schon unisono gesagt und in Zahlenbeispielen anschaulich gemacht worden.

Als letzter Sachverständiger hatte Hans Gottlob Rühle, Direktor des Arbeitsgerichts Marburg, das Wort. In seinen Ausführungen verwies der erfahrene und angesehene Jurist darauf, dass ein Rückzug der Arbeitsgerichtsbarkeit aus der Fläche in klarem Widerspruch zur aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehe. Das ‚Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz‘ (Justizgewährungsanspruch) werde damit verletzt. Damit sei bei Vollzug der Pläne des Ministeriums zu befürchten, dass – im Fall der Universitätsstadt Marburg erneut, wie in diesem Jahr in einem Urteil zur Privatisierung des Uniklinikums gerade erst geschehen – eine dann sehr viel teurer werdende Entscheidung der Karlsruher Richter drohen würde, sagte er an die Abgeordneten gewendet. Damit könnten derzeit ins Feld geführte Sachzwänge und derzeit als ‚Argument‘ angeführte Kostenbetrachtungen ganz erheblich übertroffen werden.

Minister, Staatsekretär, ein leitender Ministerialdirektor und alle Versammelten hörten dies. Manche Gesichter wirkten danach versteinert, darunter die mehrerer Abgeordneter.
„Never change a running system“ waren Rühles letzte Worte. (20110811-10.22 CET)

Zur Betrachtung der Fotografien in Großansicht und als Diaschau genügt ein Mausklick auf eines der Fotos. Alle Fotografien von Hartwig Bambey copyright 2011.


 

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