Beteiligungstage für das „Landgrafenschloss der Zukunft“

14.04.2024 (pm/red) Im Zuge des Projekts „Landgrafenschloss der Zukunft“ laden die Philipps-Universität Marburg und die Universitätsstadt Marburg alle Interessierten zu Beteiligungstagen am 19. und 20. April 2024 ein, sich mit Ideen und Wissen an der …

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Niemand mehr da – Annamaria Junge präsentiert tiefschürfende jüdische Ortsgeschichte

Marburg 3.10.2012 (yb) Das Dorf Rauischholzhausen im Ebsdorfer Grund mag bei unbedarften Besuchern einen angenehmen Eindruck erwecken. Nicht Wenige von auswärts führt ihr Weg durch den Ort zum dortigen Schloss als Tagungsstätte der Universität Gießen. Hinter die Fassaden von Häusern und in die jüngere Ortsgeschichte geblickt hat die aus dem Ort stammende Annamaria Junge. Ihre Erforschung der antisemitischen Ausgrenzung und Verfolgung in Rauischolzhausen nach 1933, als Buch im Jonas Verlag erschienen, beeindruckt mit präziser Beschreibung und Einordnung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Mehr als 70 Jahre nach den bedrückenden Ereignissen ist es der Forscherin und Autorin gelungen ein anschauliches Bild aus Sicht der Verfolgten, Ermordeten und deren Nachkommen zu zeichnen und zugleich eine umfassende Einordnung der Geschehnisse und Handlungen vor Ort in den Kontext der Verfolgung und des Holocaust ingesamt zu leisten.

Die Arbeit der Autorin und ihr Buch „als Ergebnis einer Suche nach denen, die fehlen und nach den Gründen ihrer Abwesenheit“ zu beschreiben, erweist sich als zutreffend. Leser/in wird konfrontiert mit dem „Ergebnis einer umfangreichen Suche in Archiven, in Gesprächen mit Zeitzeugen vor Ort, insbesondere aber Gesprächen mit noch lebenden jüdischen Zeugen, vier Geschwistern der Familie Spier.“ Gestützt auf umfangreiche Quellen aus Archiven und zahlreiche Gespräche mit Nachfahren, die auch Zeitzeugen sind, ist eine erstaunliche präzise Nachzeichnung des Geschehenen und auch dessen Einordnung gelungen. Der Ansatz der Autorin leistet mehreres: Es geht ihr um die Geschehnisse und Handlungen vor Ort, um Täter und Opfer, (frühe) Verfolger und Verfolgte.

Die personenbezogene Betrachtung, Forschung und Darstellung – seien es Täter im Amt, wie Landrat, Bürgermeister oder Dorfpolizist, Partei- und SA-Mitglieder, oder Nachbarn, Profiteure von frühen Vertreibungshandlungen als Haus- und Grundstückserwerber, später die Dorfbewohner bei der Versteigerung des verbliebenen Hab und Gutes des gewaltsam „judenfrei“ gemachten Ortes, oder seien es die wachsendem Verfolgungsdruck, Ausgrenzung und Entrechtung ausgesetzten jüdischen Mitbewohner in ‚Holzhausen‘, darunter die überlebenden vier Kinder der Familie Spier, konfrontierte die Autorin Junge spätestens zur anstehenden Publikation mit Frage nach einer Anonymisierung der Namen in ihren schriftlichen und mündlichen Quellen. Solche Anonymisierung ist konsequenterweise unterblieben und gibt damit nicht alleine Opfern ihre Geschichte und Würde zurück. Auch Täternamen finden sich genannt, ohne deswegen eine verkürzende Sicht zu provozieren.

Der weitgehende wissenschaftliche Ansatz der Autorin auf der Grundlage ihres Masterstudiums ‚Holocaust Communication and Tolerance‘ in Berlin leistet zugleich eine Schilderung der NS-Judenverfolgung mit Einordnung des örtlichen und regionalen Geschehens im damaligen ‚Holzhausen‘. So entfaltet sich bei der Lektüre ein doppeltes Bild. Die NS-Judenpolitik wird als Ganzes skizziert und als Rahmenbedingung für Handeln und Ereignisse vor Ort geschildert. Damit entsteht ein ganzheitliches Bild, welches von Junge mit erstaunlicher Souveränität und Sicherheit zu Papier gebracht wird. Ausdruck ihrer umfassenden Literatur- und Quellenorientierung sind 1008 Anmerkungen auf den 150 Buchseiten, in denen das Eigentliche seine Darstellung gefunden hat.

„Rauischholzhausen und die Shoah“ ist Überschrift dieses Hauptabschnittes, in dem sytematisch und chronologisch berichtet wird:

  • Von der Machtergreifung bis zu den Nürnberger Gesetzen  Machtübertragung an Hitler Gesellschaftliche Ausgrenzung Wirtschaftliche Ausgrenzung
  • Von den Nürnberger Gesetzen bis zu den Novemberpogromen Nürnberger Gesetze und zunehmende Gewalt Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz Vertreibung
  • Von den Novemberprogramen bis zum deutschen Angriff auf Polen ●Novemberpogrome ●Auswanderung Gesteigerte Kontrolle und Ausbeutung Zwangsarbeit Synagoge und jüdischer Friedhof
  • Vom deutschen Angriff auf Polen bis zur Deportation Isolation Ghettoisierung und Deportation Ermordung Bereicherung

Aus 21 Seiten schildert das Buch schließlich die Zeit ‚Nach der Shoa‘. Es gab mehrere jüdische Überlebende, die zurückggekehrt sind. Es gab ein Ausbildunglager für jüdische DP´s, die landwirtschaftliche Ausbildung für ihre Auswanderung nach Israel erhielten. Im Schlußabschnitt ‚Fazit‘ wird Bilanz Bewertung Ausblick gegeben und Leser/in noch einmal vor Augen geführt, dass es nicht wenig vorauseilendes Handeln, bedrückendes Täterverhalten, Bereicherung und dannach viel Verdrängung gegeben hat.

So gelingt es auf den 240 Buchseiten mit abschließendem akribischen Anmerkungsapparat, Quellen- und Literaturverzeichnis, ein ungewöhnlich dichtes Bild lokaler Jugendenverfolgung nachzuzeichnen. Dafür mussten gleich mehrere ungewöhnliche Faktoren zusammenkommen, die Annamaria Junge als Person in sich vereint und als überzeugende als Forschungsarbeit vorgelegt hat. Dass dies Konsequenzen hatte, Initiative für Gedenktafel, Veranstaltungen an Schulen und Erinnerungsarbeit im kommunalen Raum auslöste kann nicht überraschen.

Ein spätes erhellendes Licht auf Rauischholzhausen – dessen der Ort, die weiterhin dort Lebenden und seine verfolgten vormaligen jüdischen Bewohner und dringend bedurften. Martin Spier sagte in einem Interview: „Ich habe nicht die Natur zurückzugehen. …I [would] like to go, once more to Holzhausen, on the cemetery, to Kirchhain. I want to see [it], but … ist niemand mehr da.“

Zur Autorin
Annamaria Junge (*1981) studierte Jura in Berlin, einen Masterstudiengang zum Nationalsozialismus und arbeitet seit 2011 an einer Promotion zu jüdischer Geschichte in Deutschland nach 1945. Ihre Mutter ist in Rauischholzhausen geboren, ihre Großmutter (*1915) lebt noch dort. Der leibliche Großvater war Verwalter des größten landwirtschaftlichen Betriebs im Dorf, SA-Mitglied, Hitlerjugendführer und starb 1945 als  Soldat in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Bibliografische Angaben
Annamaria Junge: Niemand mehr da
Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Rauischholzhausen 1933–1942
208 Seitenb, ca. 20 Abbildungen, Format 17 × 24 cm
Broschur, Ladenpreis 20 Euro
Jonas Verlag, ISBN 978-3-89445-462-3

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