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Warum in Marburg Stadtmarketing gegen Bürgerinteressen verstößt

Marburg 1.11.2012 (red) In der kommenden Stadtverordnetenversammlung am 2. November wird als Tagesordnungspunkt 9 der ‚Stadtmarketingprozess für die Universitätsstadt Marburg‘ vorgestellt und thematisiert. Dem ist die Erarbeitung einer Studie vorangegangen. Diese wurde bereits in einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert. Mit Thema, Anliegen und Hintergründen diser Aktivitäten zum Stadtmarketing beschäftigt sich ein Gastbeitrag von Nico Biver. Der Autor ist aktiver Kommunalpolitiker als ehrenamtlicher Stadtrat der Fraktion Marburger Linke.

„Die Universitätsstadt Marburg befindet sich in einem wachsenden Wettbewerb zwischen den Kommunen.“ So lautet das Eingangsstatement eines Stadtmarketingkonzeptes für Marburg der CIMA Beratung + Management GmbH, das am 2. November von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedet werden soll. Ziel des „ganzheitlichen Stadtmarketings“ sei die Vermarktung Marburgs im „Wettbewerb um Unternehmen, Investitionen, Bürger, Studierende, Kunden und Gäste.“ Um das zu erreichen sollen Interessensvertretungen von Handel, Gastronomie und Unternehmen, die Universität, die Presse, Kultureinrichtungen und die Fachdienste der Stadt für Stadtentwicklung, Stadtplanung, Kultur, Sport und Öffentlichkeitsarbeit an einem Strang ziehen, denn „Stadtmarketing ist ein Prozess, der von allen gelebt werden muss.“ (Egon Vaupel, OP, 16.10.2012)

Der Hinweis auf den „nationalen und internationalen Wettbewerb um Unternehmen, Investitionen“ soll wohl eher dazu dienen, die Bedeutung des Konzeptes zu überhöhen. Denn Aktionäre werden auch weiterhin darauf vertrauen können, dass nicht die Zahl der Events in einer Stadt den Ausschlag für Investitionsentscheidungen gibt, sondern die Nähe zu Märkten und Rohstoffen, die Qualifizierung von Arbeitskräften und das Vorhandensein von Verkehrsverbindungen.
Bei näherem Hinschauen geht es beim Stadtmarketing nur um eins: „Die Stadt muss darauf achten, dass auch künftig viele Menschen in Marburg studieren, einkaufen, essen, trinken und feiern wollen.“ (Ana Ntemiris, OP vom 16.10.2012). Kultur, Sport, Politik, Verwaltung und Universität sollen also für die Zwecke des Einzelhandels und des Hotel- und Gaststättengewerbes eingespannt werden.
Mit der Behauptung, Marburg befände sich im Wettbewerb mit anderen Kommunen sollen die Interessen des Handels zum Gesamtinteresse aller Marburger erklärt werden. Das ist erstaunlich, denn im Bereich Einzelhandel, Gaststätten, Hotellerie und Verkehr arbeiten lediglich 14 Prozent der Beschäftigten in Marburg. Der Anteil an der Marburger Gewerbesteuer dürfte etwa halb so hoch sein. Die Branche ist bekannt für Niedriglöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse.
Exportweltmeister dezimiert Einzelhandel

Dass der Marburger Einzelhandel von einem Stadtmarketing profitieren will, ist nachvollziehbar, denn auf die Ursachen seiner Umsatzflaute hat er wenig Einfluss. Umsatzsteigerungen sind nur auf Kosten der umliegenden Konkurrenz möglich. Das wissen die anderen Städte auch und geben ebenfalls viel Geld für Stadtmarketing aus. Volkswirtschaftlich betrachtet ist diese Politik der Einzelhandelsförderung öffentliche Geldverschwendung, weil dadurch nicht ein Euro mehr im Einzelhandel und der Gastronomie ausgegeben wird. Das Geld, das zusätzlich in Marburger Kassen klingeln würde, würde anderswo (zum Beispie in Gießen oder Kirchhain) fehlen.

Um dem Einzelhandel zu helfen, müsste man sich fragen, warum seit 1995 sein Umsatz bundesweit rückläufig ist. Das hat damit zu tun, dass „wir“ Exportweltmeister geworden sind. Um das zu erreichen, wurde von Schwarz, Rot, Gelb und Grün der Arbeitsmarkt dereguliert. Minijobs, Leiharbeit und Hartz IV waren die Instrumente, mit denen die Löhne vor allem in den unteren Lohn- und Gehaltsgruppen gesenkt wurden und die Exportindustrie auf den Weltmärkten reüssieren konnte. Die realen Bruttolöhne stagnieren seit 1990 im Durchschnitt.
Dem Einzelhandel würden Maßnahmen helfen, die die Massenkaufkraft stärken

  • ein gesetzlicher Mindestlohn
  •  Abschaffung von Niedriglöhnen
  • angefangen bei den städtischen Betrieben;
  • 
niedrigere Wohnmieten, damit mehr von Bafög und Gehalt für den Konsum übrig bleibt
  • 
Mehrausgaben der Stadt

Um dem zwischenstädtischen Wettbewerb um die Kunden und die sinnlose Verpulverung von öffentlichen Werbegeldern Einhalt zu gebieten, sollten sich Gießen, Wetzlar und Marburg an einen Tisch setzten und ‚Abrüstungsmaßnahmen‘ im ruinösen Handelskrieg vereinbaren.

Kunden statt Bürger
Die Interessen der Marburger Bürger kommen im Stadtmarketingkonzept nicht vor. Große Teile der Marburger Politik sollen den Bedürfnissen des Handels untergeordnet werden. Bei der Stadtentwicklung und -planung ist das schon länger der Fall – siehe Entwicklung der Nordstadt. Gleiches gilt auch für die Kulturpolitik. Es wird das gefördert, was verspricht Kaufkraft in die Stadt zu holen.
Die Folgen lassen sich betrachten: Es gibt fast keine Woche, in der nicht irgendein Event über die Bühne geht, das Kunden in die Stadt locken soll. Ob „Marburg b(u)y Night“, Elisabethmarkt, Marburger Frühling, Mai-Einsingen, 3TM, Weihnachtsmarkt, Mittelaltermarkt, Pflanztage, Innenstadtkirmes und das Hafenfest – ohne Hafen. Diese Tendenz wird noch weiter zunehmen.

Was für die Kultur gilt, soll auch stärker für den Sport gelten, der laut Planung ins Stadtmarketing einbezogen werden soll. Auch hier sollen Events wie der Thorpe-Cup (alljährlicher Zehnkämpferwettbewerb USA-BRD) für weltweite Aufmerksamkeit sorgen.

Propaganda statt Information
Mit am Tisch soll künftig auch der Fachdienst Öffentlichkeitsarbeit sitzen. Bereits heute ist diese Abteilung nicht dafür bekannt, dass sie auf Probleme aufmerksam macht und Alternativen zur Diskussion stellt, sondern mit Magazinen wie „Studier mal Marburg“ gute Nachrichten verbreitet, ganz im Sinne des Credos des Oberbürgermeisters von den „hohen Standards“ in Marburg. Die Marburger Schattenseiten, die das Marburger Werbeimage eintrüben könnten, werden noch stärker ausgeblendet werden. Zu diesem Zweck soll auch die Presse mit am Stadtmarketingtisch sitzen.
Dazu passt, dass auch das „Innenmarketing ausgebaut und dadurch die Identifikation und das Engagement der Bürger mit dem und für den Standort Marburg gestärkt werden.“ Für ‚Nestbeschmutzer‘ ist kein Platz.

Pferd von hinten aufgezäumt
Mit dem Stadtmarketing wird eine Stadt beworben, die es nicht gibt. Ein Beispiel für dieses Herangehen, liefert das wohl wichtigste Marketingprojekt der Stadt, die Bewerbung für die UNESCO-Weltkulturerbeliste. Das bunte Bewerbungsheft zeigt eine Reihe großformatiger Fotos der Stadt. Dabei ist es nach potemkinscher Manier gelungen, dass weder die Stadtautobahn, noch der Affenfelsen oder das Erlenringcenter ins Bild kommen.
Die beste Werbung für Marburg wäre eine lebenswerte Stadt, ohne Verkehrslärm und Gestank, ohne Scheußlichkeiten wie die Stadtautobahn oder die Center am Erlenring und ohne Mieten, die sich nur noch Begüterte leisten können.
Hilfreicher als ein Stadtmarketing wäre auch eine Schließung der Lücken im Einzelhandelsangebot. Nur das wäre nachhaltige Politik, weil Einkaufsfahrten nach Gießen oder Frankfurt vermieden werden könnten.

Bürgerinteressen unter den Rädern
Die Liberalisierung der Öffnungszeiten des Einzelhandels und des Gaststättengewerbes hat den Kunden und Gästen zwar neue Freiheiten – und den Beschäftigten neue Unfreiheiten – beschert. Die Bürger in der Innenstadt können aber ein Lied davon singen, wie dadurch Verkehr und Lärm ihre Lebensqualität beinträchtigen. Dies wird durch die zunehmenden Events weiter auf die Spitze getrieben.
Sollte das Stadtmarketing Erfolg haben, werden Lärm und Verkehr die Stadt nicht nur für Innenstadtbewohner sondern auch zunehmend für die Besucher uninteressant machen. Die Zeche werden am Ende die Marburger oder die Kunden der Stadtwerke zahlen, weil sie für den Bau neuer Parkhäuser – wie bereits am Bahnhof geplant – aufkommen müssen.

Brauchen wir mehr Einwohner?
Muss Marburg größer werden? Warum eigentlich? Angesicht rückläufiger Bevölkerungszahlen in Deutschland und Hessen wäre es allenfalls sinnvoll, die Einwohnerzahl zu halten, um so vorhandene Einrichtungen auch weiterhin auslasten und finanzieren zu können.Aufgrund zunehmender Studierendenzahlen hat Marburg nach Gießen den stärksten Einwohnerzuwachs aller Sonderstatusstädte. Es macht keinen Sinn diesen Trend noch weiter zu verstärken. Denn zunehmende Staus gibt es nicht nur auf der Straße sondern auch im Wohnungswesen. Bei Mieten, die bereits das Frankfurter Niveau übersteigen, und einem brachliegenden sozialen Wohnungsbau, macht es wenig Sinn noch mehr Menschen nach Marburg zu holen.

Und auch das Einspannen der Universität in das Stadtmarketing wird wenig helfen können. Bereits jetzt sind die Hörsäle überfüllt und ist die Personalausstattung mangelhaft. Mehr Studierende würden diese Probleme noch weiter verschärfen. Profitieren würden allenfalls die Vermieter durch noch höhere Mieten und die Investoren, die noch lukrativere Residenzen bauen könnten.

Fazit
Hohe Mieten, eine überfüllte Universität, hässliche Center, verwechselbare Events, Verkehrslärm und Staus machen Marburg unattraktiv für Kunden und Bürger. Gegen diese Realität wird ein Stadtmarketing nichts ausrichten, sondern die Probleme nur noch verstärken.

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