Beteiligungstage für das „Landgrafenschloss der Zukunft“

14.04.2024 (pm/red) Im Zuge des Projekts „Landgrafenschloss der Zukunft“ laden die Philipps-Universität Marburg und die Universitätsstadt Marburg alle Interessierten zu Beteiligungstagen am 19. und 20. April 2024 ein, sich mit Ideen und Wissen an der …

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Selbsthilfe: Vom Staat allein gelassen

Heike und Thomas Rauch blicken trotz Krankheit immer positiv in die Zukunft. (Privatfoto)

Marburg 20.3.2018 red/sr) Heike Rauch erhielt Ende der 90er Jahre die Diagnose Huntington. Die Erbkrankheit zerstört das Gehirn, erschwert zunehmend das Bewegen, Sprechen und Schlucken. Ihr Ehemann Thomas Rauch pflegt sie zuhause. Er kämpft nicht nur für ihre Lebensqualität, sondern auch um Anerkennung und Aufklärung innerhalb der Gesellschaft.
Überbewegung oder Versteifung von Armen und Beinen, Desorientierung, Demenz, Persönlichkeitsveränderungen: Huntington kann viele Symptome haben. Früher war die Krankheit bekannt unter dem Namen Veitstanz. Im Alltag für die Betroffenen besonders belastend: Erkrankte werden wegen ihrer Bewegungs- und Sprachstörungen oft für betrunken gehalten.

Als Heike Rauch die Diagnose bekam, waren ihre Beschwerden noch gemäßigt: Unregelmäßigkeiten beim Laufen und kleine Muskelticks, beispielsweise im rechten Zeigefinger. Dass es nicht immer so gut bleiben würde, war ihr und ihrem Mann klar. Ebenso klar war die Entscheidung von Thomas Rauch, seine Frau nicht in ein Pflegeheim zu bringen. „Heike braucht heute für ganz normale Dinge oft sehr viel Zeit, die Pfleger nicht haben. Sie bekommt alles in ihrer Umgebung mit, kann sich aber nur schwer verständlich machen. Ich selbst kenne ihre Gesten und Wünsche am besten.“

Einfach ist die Pflege zuhause nicht. Thomas Rauch arbeitet im Schichtdienst, muss dann Familienmitglieder, Freunde oder Minijobber organisieren, die sich um Heike kümmern. Seinen Job aufgeben will er nicht, seine Familie braucht das Geld und das Haus. Thomas Rauch fürchtet sich vor Arbeitslosigkeit und Altersarmut: „Das geht heute so schnell, vor allem, wenn eine Krankheit mit im Spiel ist. Wir haben zwei Kinder und zwei Enkelkinder, denen wir etwas bieten möchten anstatt ihnen finanziell zur Last zu fallen. Vom Staat wünsche ich mir weit mehr Unterstützung für pflegende Angehörige“, sagt er.

Thomas Rauch kämpft an vielen Fronten, nicht nur in den privaten vier Wänden. Auf der Straße begegnen ihm und seiner Frau neugierige Blicke und Getuschel. Beim Einkaufen muss er auf barrierefreie Zugänge und Behindertentoiletten achten. Will das Ehepaar mit der Bahn nach Frankfurt fahren, müssen sie vom Wohnort Cappel erst 30 Minuten mit dem Bus zum Hauptbahnhof, um dann wieder mit dem Zug an Cappel vorbei zu fahren. Der Grund: Der Bahnsteig am Südbahnhof ist für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich. „Die Stadt muss ihre Infrastruktur überarbeiten, da ist noch einiges in puncto Barrierefreiheit zu machen“, stellt Rauch fest.

Auch mit der Krankenkasse hatten die Rauchs zu kämpfen: Es gibt beispielsweise spezielle Sessel für Patienten mit Huntington oder ähnlichen Haltungsschwierigkeiten. Der Sessel ist breiter, länger, hat an den Seiten hohe Lehnen. Das ermöglicht den Betroffenen, sicher, würdevoll und einigermaßen bequem am Leben der Familie teilzunehmen. „Die Krankenkasse wollte uns diesen Sessel zunächst nicht bezahlen. Es sei doch nur ein ganz normaler Fernsehsessel, war die Begründung“, erzählt Thomas Rauch. Doch er ließ nicht locker, setzte sich schließlich durch, bekam den Sessel.

Wie man mit Huntington den Alltag meistert, sich vor Krankenkassen und Behörden behauptet, das will das Ehepaar Rauch weitergeben. „Die Kraft, die diese Bürokratie kostet, kann man für anderes besser gebrauchen“, sagt Thomas Rauch. 20 Jahre Erfahrung mit der Krankheit und ihren Umständen haben ein ungemeines Wissen hervorgebracht. Thomas Rauch hat vor 13 Jahren die Leitung der Huntington-Selbsthilfegruppe in Marburg übernommen, mittlerweile auch den Landesvorsitz der Deutschen Huntington Hilfe.

„Als Kranker fühlt man sich in der Gesellschaft leider immer noch als Außenseiter“, erklärt er. Eine Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige biete einen geschützten Raum für Erfahrungsaustausch, Tipps und Fragen. Zum ersten Mal hat das Ehepaar Rauch die Gruppe kurz nach der Diagnose besucht, sich aber noch nicht so richtig wohl gefühlt. „Wir konnten bei den Treffen sehen, wohin die Reise für Heike gehen würde“, erzählt Thomas Rauch. „Wir haben ein paar Jahre ausgesetzt und es dann noch einmal mit der Gruppe versucht. Da hat es dann plötzlich gepasst für uns.“

Thomas Rauchs Engagement geht über die Selbsthilfegruppe und den Verein hinaus: Er möchte seine gesunden Mitmenschen für die Themen Krankheit und Behinderung sensibilisieren. „Wenn auch nicht gerade Huntington, jeder von uns kann krank werden, wenn nicht, dann zumindest alt. Vor alten, kranken oder behinderten Menschen braucht man keine Angst zu haben. Jeder braucht irgendwann einmal Hilfe und ich wünsche mir, dass jeder die Hilfe bekommt, die er braucht.“

Thomas Rauch wünscht sich mehr öffentlich zugängliche Informationen über Huntington und vor allem bessere. Im Internet gäbe es einige Seiten, die fehlerhafte oder einseitig negative Informationen verbreiten würden, bemängelt er. Auch in den Kliniken gäbe es nur wenige gut spezialisierte Ärzte in Deutschland. Betroffene müssten teilweise Tagesreisen für kurze, wenn auch gute, Beratungsgespräche oder Untersuchungen unternehmen. „Auch hier muss die Infrastruktur von staatlicher Seite mehr gefördert werden“, fordert Rauch.

Aller Widrigkeiten zum Trotz lassen Heike und Thomas Rauch sich den Lebensmut nicht nehmen. Bis vor wenigen Jahren haben sie noch zwei Mal monatlich Motorradtouren unternommen. Heute geht das nicht mehr, zu gefährlich wären Heikes unkontrollierte Bewegungen auf dem offenen Gefährt. Dafür stehen jetzt Ausflüge in die Lieblingseisdiele auf dem Programm, am liebsten mit Freunden. Von denen sind nur die wirklich guten geblieben. Darüber sind die Rauchs aber nicht traurig: „Die Wichtigkeit mancher Dinge wird positiv neu geordnet. Wir haben lieber wenige besonders treue Freunde als viele halbherzige Anhängsel, auf die wir uns nicht verlassen können“, erklärt Rauch mit einem Augenzwinkern.

Infowochenende zu Huntington
Mit dem Landesverband der Deutschen Huntington-Hilfe organisiert Rauch regelmäßig Infoveranstaltungen. Beispielsweise vom 8. bis 10. Juni in der Wetzlarer Jugendherberge. Am Freitagabend steht ein Gesprächskreis der Teilnehmenden auf dem Programm. Der Samstag beginnt mit der Mitgliederversammlung. Danach gibt es interessante Vorträge von Huntington-Ärzten und -Forschern, Sozialrechtlern und Pädagogen. Am Sonntag werden Entspannungsmöglichkeiten für Erkrankte und Angehörige angeboten. Interessierte können sich direkt an Thomas Rauch wenden.

Kontakt zur Selbsthilfegruppe
Thomas Rauch
Vorsitzender Landesverband Hessen
Deutsche Huntington Hilfe e.V.
Telefon: 0 64 21 / 48 14 29
Mobil: 01 52 / 05 32 87 80
E-Mail: dhhlandesverbandhessen@gmail.com
Internet: www.dhh-ev.de
Treffen: am zweiten Samstag in geraden Monaten

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