Beteiligungstage für das „Landgrafenschloss der Zukunft“

14.04.2024 (pm/red) Im Zuge des Projekts „Landgrafenschloss der Zukunft“ laden die Philipps-Universität Marburg und die Universitätsstadt Marburg alle Interessierten zu Beteiligungstagen am 19. und 20. April 2024 ein, sich mit Ideen und Wissen an der …

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Viel Interesse am Erzählcafé zum Thema Flüchtlinge

Zuhören und mehr erfahren wollten über 200 Marburgerinnen und Marburger beim Erzählcafé im bis auf den letzten Platz gefüllten Historischen Rathausaal als Flüchtlinge aus ihrem Leben berichteten. Foto Nadja Schwarzwäller.

Zuhören und mehr erfahren wollten über 200 MarburgerInnen beim Erzählcafé im bis auf den letzten Platz gefüllten Historischen Rathausaal als Flüchtlinge aus ihrem Leben berichteten. Foto Nadja Schwarzwäller.

Marburg 05.11.2015 (pm/red) Das Thema Flüchtlinge übertrifft derzeit alle anderen Themen. In Marburg ebenso wie anderenorts, solle es auch darum gehen, die Menschen und Lebenswege hinter den Zahlen kennenzulernen. Das war laut Andrea Fritzsch vom Projekt „Mosaiksteine“ der Beweggrund, ein Erzählcafé anzubieten, in dem Flüchtlinge selbst zu Wort kommen. Mehr als 200 Menschen drängten sich kürzlich im Historischen Saal des Rathauses, um ihnen zuzuhören. So nahm auch Oberbürgermeister Egon Vaupel mit einem Stehplatz vorlieb, nachdem er die Gäste begrüßt hatte. Die schwierige Aufgabe der Integration von Flüchtlingen sei eine Aufgabe, die man in Marburg schaffen werde – „wenn wir alle solidarisch handeln“, so Vaupel.

Derzeit leben etwa 2.300 Menschen in Marburg, die als Flüchtlinge, Asylsuchende und mit unterschiedlichem Status registriert sind. 1.050 von ihnen kamen allein in diesem Jahr. In den kommenden Wochen rechnet die Stadt mit weiteren 150 Menschen – Menschen, denen man einen Platz geben möchte, „wo sie Ruhe finden und eine Zukunft haben“, machte das Stadtoberhaupt deutlich. „Neue Bürgerinnen und Bürger“ nennt der Oberbürgermeister sie explizit. Die Vielfalt, die Marburg auf diesem Weg zusätzlich erhalte, werde künftig den Reichtum der Stadt ausmachen. Wichtig sei es, die Menschen aus der Anonymität zu holen und miteinander ins Gespräch zu kommen.

Diesem Zweck soll auch das Erzählcafé dienen. Zwei Flüchtlinge saßen gemeinsam mit Andrea Fritzsch sowie der Übersetzerin Hossay Lalandary und Shaima Ghafury, Ombudsfrau für Flüchtlinge im Camp in Cappel, auf dem Podium. Anisa Nikzad, 43 Jahre alt, gelernte Schneiderin, stammt ursprünglich aus Afghanistan, von wo aus sie bereits vor 17 Jahren nach der Ermordung ihres Mannes in den Iran geflüchtet ist. Seit fünf Monaten ist sie mit ihren Kindern in Deutschland, nachdem es für die Familie auch im Iran nicht mehr sicher gewesen sei, wie sie erzählt. Mohamad-Nur Diar Bakerli ist 26 Jahre alt und in seiner Heimat Syrien BWL-Student und Profi-Basketballer gewesen. Er floh 2013 von dort und hat inzwischen in Marburg Fuß gefasst. Endlich kann er wieder Basketball spielen und macht derzeit ein Praktikum im Sportamt.

Beide kamen mit Schleusern nach Deutschland und erzählen von der Angst und vom Ausgeliefertsein während der Flucht. Anisa Nikzad musste mit ihren Kindern nach einem stundenlangen Marsch durch Schnee und Kälte mehrere Tage in einer Art Stall ausharren, bevor es mit dem Auto über die Türkei, Griechenland und Serbien nach Deutschland ging. Sie haben unterwegs nicht gewusst, wo sie sich befinden. Als sie in Frankfurt ankamen, seien sie sehr erleichtert gewesen. Sie kam über das Erstaufnahmelager in Gießen ins Camp nach Cappel und seit einer Woche lebt die Familie in einer Wohnung in Cölbe.

Zum ältesten Sohn, der aus dem Iran nach Syrien ausgerissen war, um in den Krieg zu ziehen, hat sie seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Für ihre anderen Söhne wünscht sie sich vor allem, dass sie schnell Deutsch lernen können. „Wir kommen jetzt zur Ruhe, wir fühlen uns sicher“, sagt Anisa Nikzad. Nur einsam fühlen sie sich ein wenig. Mohamad-Nur Diar Bakerli spricht bereits fließend Deutsch – und was er erzählt, wird für einige jugendliche Flüchtlinge, die die Sprache ebenfalls noch nicht verstehen, noch einmal „zurück“ übersetzt im Erzählcafé. Er hatte zunächst versucht, mit einem offiziellen Visum nach Schweden zu fliegen, wo eine befreundete Sportlerin lebt.

Seine Flucht mit einem Schleuser führte ebenfalls über die Türkei und Griechenland. Von dort aus flog er mit einem falschen Pass dann zunächst nach Wien, bevor er von dort aus nach München gelangte. Über Halberstadt und Magdeburg kam er schließlich nach Marburg. Im Frühjahr 2014 begann er mit einem Sprachkurs an der Uni, zwei Monate hat er als Kellner gearbeitet und nun absolviert er ein einjähriges Praktikum beim Sportamt der Universitätsstadt. Die Deutschen erlebt er – auch wenn er in Halberstadt und Magdeburg zum Teil andere Erfahrungen gemacht hat – als tolerant und offen. „Ich komme ganz gut zurecht“, erklärt der 26-Jährige, der inzwischen auch eine deutsche Freundin hat, wie er verrät.

Shaima Ghafury, die das Erzählcafé initiiert hatte, berichtet, sie fühle sich bei den Erzählungen an ihre eigene Flucht aus Afghanistan erinnert. Damals habe sie mit ihrem einjährigen Kind und über 20 anderen Leuten in einem Minibus gesessen, in dem normalerweise Gemüse transportiert wurde. Es gab keine Fenster und nachdem die Sonne aufgegangen war, sei die Atemluft als Wasser von der Decke gekommen.

Aus den Reihen der Gäste kam unter anderem die Frage, wie die Flüchtlinge die Rolle der Schleuser sehen – ob sie für sie Helfer oder Kriminelle seien. Anisa Nikzad erklärte, angesichts der Tatsache, heil in Deutschland angekommen zu sein, seien sie für sie hilfreich gewesen. Für Mohamad-Nur Diar Bakerli sind es ganz klar Kriminelle, die nur auf Geld aus seien und keinerlei Rücksicht nähmen. „Du hast keine andere Wahl“, kommentiert er die Zustände, die den Flüchtlingen dabei zugemutet werden.

Das Erzählcafé erreichte das Ziel, den Anwesenden die ganz persönliche Geschichte zumindest zweier Flüchtlinge näherzubringen. Es schaffte darüber hinaus weitere Vernetzungen. Ein Mitglied des Marburger Tauschrings fragte nach, ob Anisa Nikzad als gelernte Schneiderin nicht vielleicht nähen könnte und ob sie eine Maschine dafür bräuchte. Eine junge Frau brachte den Cölber Arbeitskreis für Flüchtlinge ins Gespräch, um Kontakte vor Ort zu knüpfen. Auch die Gründung eines internationalen Kinderchors und ein Medienprojekt, in dem Jugendliche Filmen drehen und schneiden lernen, wurden kurz vorgestellt.

Das Thema Flüchtlinge soll noch in weiteren Erzählcafé-Veranstaltungen Fortsetzung finden, kündigte Andrea Fritzsch an.

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