Darf man bei einer umstrittenen politischen Veranstaltung zuhören? JA! Vergleich am Arbeitsgericht Gießen – Ein Sieg für die Meinungsfreiheit

Verhandlungssaal am Arbeitsgericht Gießen Foto Frank Michler
13.06.2025 Gastbeitrag von Frank Michler Ein Arbeitnehmer wollte sich in seiner Freizeit ein eigenes Bild über Buch und Vortrag des Autors Martin Sellner machen. Nachdem er von „Kollegen“ beim Arbeitgeber denunziert wurde, gab es eine fristlose Kündigung. Gegen diese wehrte er sich erfolgreich vor dem Arbeitsgericht Gießen.
Darf man bei einer umstrittenen politischen Veranstaltung zuhören? Oder ist das ein Kündigungsgrund? Mit dieser Frage musste sich das Arbeitsgericht Gießen in einem Kammertermin am Dienstag, den 10. Juni 2025, beschäftigen. Der Arbeitgeber, ein Verein, der sich für Behinderte einsetzt, hatte einem Angestellten seines Zweckbetriebes eine außerordentliche fristlose Kündigung ausgesprochen.
Vergleich – ganz im Sinne des Klägers
Der Angestellte klagte gegen die Kündigung und bekommt seinen Job nun zurück. Kläger und Arbeitgeber einigten sich auf einen Vergleich. Der Arbeitgeber nahm die Kündigung zurück und verpflichtete sich, dem Kläger das seit dem 20. August 2024 entgangene Gehalt vollständig, einschließlich Prämien und Zinsen, nachzuzahlen. Beide Streitparteien gaben zuvor Erklärungen ab, die dazu beitragen sollten, die vom Arbeitgeber behauptete Störung des Betriebsfriedens zu beseitigen.
Erklärungen der Streitparteien als Grundlage für Vergleich
Der Kläger gab eine Erklärung zu Protokoll, aus welcher hervorgeht, dass die Unterstellung, der Kläger vertrete ausländerfeindliche oder rechtsextremistische Positionen, völlig haltlos ist [1]. Der beklagte Arbeitgeber beteuerte, der Respekt für das Grundgesetz sowie für einfache Gesetze seien für ihn selbstverständlich. Gleichwohl seien rechtsextreme Positionen mit dem ideellen Selbstverständnis des Vereins unvereinbar. Auf Grundlage dieser Erklärungen einigten sich Arbeitgeber und Kläger auf einen Vergleich, der einem vollumfänglichen Sieg des Klägers entspricht.
Arbeitgeber wollte keine angedeutete Kritik
Doch um diese Erklärungen wurde lange gerungen. In einem außergerichtlichen Gespräch hatte der Kläger bereits die Abgabe einer solchen Erklärung angeboten und der Arbeitgeber hatte Bereitschaft signalisiert, den Kläger weiterzubeschäftigen. Doch der Erklärungstext des Klägers enthielt am Ende zwei Absätze, in denen der Kläger auf das Grundgesetz sowie auf das Betriebsverfassungsgesetz verwies und demokratisches Miteinander anmahnte. Der Arbeitgeber störte sich daran, weil in diesen Absätzen implizit eine Kritik an seinem Umgang mit dem Kläger herauszuhören war. Daran hatte der Arbeitgeber auch eine außergerichtliche Einigung vor dem Kammertermin scheitern lassen.
„Haltung“ zeigen reicht (noch) nicht vor Gericht
Bereits im Gütetermin hatte der Arbeitgeber eingeräumt, dass es für den Bestand der fristlosen Kündigung „rechtliche Risiken“ gäbe, da ein außerdienstliches Verhalten zur Begründung angeführt wurde [2]. Der Verein wollte mit der Kündigung aber „Haltung zeigen“, „auch in die Marburger Stadtöffentlichkeit hinein“. Zu Beginn des Kammertermins zeigte sich nun, dass die rechtliche Position des Arbeitgebers noch viel schwächer war: Die Kündigung war schon formell ungültig, da sie nicht von beiden sondern nur von einem geschäftsführenden Vorstandsmitglied unterschrieben worden war, anders, als es die Vereinssatzung vorsah.
Arbeitgeber hatte seine Hausaufgaben nicht gemacht
Der Geschäftsführer erläuterte, dass laut Satzung der Aufsichtsrat auch Einzelvertretungsbefugnis erteilen kann, z.B. bei Erkrankung oder Abwesenheit eines Geschäftsführers. Er wusste jedoch nicht, ob eine
solche vorlag, und meinte, das „müssten wir jetzt noch mal prüfen“. Diese Hausaufgaben hätte der Arbeitgeber jedoch vor dem Kammertermin erledigen müssen. Das machte die Richterin dem Arbeitgeber deutlich, als sie darauf hinwies, dass der Kläger diesen Formfehler bereits in einem Schriftsatz vom Februar 2025 gerügt hatte. Mit sehr freundlicher und verständnisvoller Stimme offenbarte sie dem Geschäftsführer des beklagten Vereins und seinem Anwalt ihre aussichtslose Rechtsposition:
„Wir sitzen jetzt im Kammertermin. Das ist eine Formalie der Kündigung. Die müssen wir natürlich überprüfen, bevor wir zu den inhaltlichen Sachen was sagen können.“
Richterin vermittelt zwischen Streitparteien
Da die Richterin die Kammer kurzfristig übernommen hatte, erkundigte sie sich bei den Streitparteien, was im Gütetermin passiert sei, ob z.B. über eine gütliche Einigung gesprochen wurde. Der Klägeranwalt
berichtet, dass im Gütetermin keine Einigung erzielt werden konnte. Der Anwalt des Arbeitgebers ergänzte, dass nach dem Gütetermin Gespräche zwischen dem Kläger und dem Geschäftsführer stattgefunden hatten. Die Überlegung sei gewesen, dass der Kläger eine Erklärung abgibt, in welcher er sich von rechtsextremem Gedankengut distanziert. Das hätte er – im Prinzip – auch in einem Entwurf für eine solche Erklärung getan.
Erst mit der dritten Version dieser Erklärung war der Verein „eigentlich auch d’accord“. Nur letzten Absätze des Schreibens interpretierte der Arbeitgeber als eine „Relativierung“. Hätte der Kläger diese Absätze
weggelassen, so wäre auf dieser Basis eine Einigung für eine Weiterbeschäftigung möglich gewesen.
Der Klägeranwalt machte deutlich, dass sein Mandant nie rechtsextremes Gedankengut vertreten habe, sich jedoch im Sinne einer gütlichen Einigung bereit zeigte, dies in einer Erklärung auszuformulieren. An den letzten zwei Absätzen der Erklärung habe man sich dann jedoch entzweit:
„In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch betonen, dass Ausgrenzung und Kündigung kein Weg sind, um mit Menschen, die andere Ansichten haben, umzugehen. Das Grundgesetz und das Arbeitsrecht sind hier eindeutig:
§ 3 GG Abs. 3 Gleichheit: Niemand darf wegen seiner politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.
§ 75 Abs.1 BetrVG: Arbeitgeber und Betriebsrat haben darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus Gründen ihrer Weltanschauung, ihrer politischen Betätigung oder Einstellung ausbleibt.
Im Sinne eines demokratischen Miteinanders hoffe ich, dass es zukünftig gelingt, offene und ehrliche Kommunikation stets an die erste Stelle zu setzen, um Herausforderungen und Differenzen zu begegnen.“
Die Richterin vergewisserte sich dann bei den Streitparteien, dass prinzipiell beide Parteien bereit wären, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen – jeweils auf Basis der Erklärung, der Kläger jedoch nur mit und der Arbeitgeber ohne die letzten Sätze.
Nach einigem Hin-und-Her und zwei Sitzungsunterbrechungen akzeptierte der Arbeitgeber schließlich, dass der Kläger seine Erklärung in der aktuellen Fassung und unverändert abgibt – ohne die vom Arbeitgeber gewünschte Streichung des letzten Teils. Dem Arbeitgeber ist offenkundig im Verlaufe der Verhandlung und durch die Hinweise der Richterin klar geworden, dass die fristlose Kündigung rechtlich nicht haltbar ist. Die Alternative zu dieser gütlichen Einigung wäre gewesen, dass die Kündigung durch einen Richterspruch allein aus formellen Gründen für ungültig erklärt worden wäre.
Somit endete das Verfahren mit einem Vergleich, der einem vollumfänglichen Sieg des Klägers gleichkommt.
Quellen