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Schädelstätten als versuchte Annäherung im Kunstverein Marburg

Marburg 10.10.2011 (yb) “Es herrscht Totenkopf-Konjunktur“ wird auf der gedruckten Einladung als einleitende Aussage vorangestellt. Im Kontrast zu solcher profan-ökonomisierender Feststellung und Beschreibung findet sich ‚Hamlet Syndrom: Schädelstätten‘ als Unterscheidung suchender Titel der nachsommerlichen Themenausstellung im Marburger Kunstverein. Es gehe darum zu zeigen und herauszufinden, wie zeitgenössische bildende Kunst mit dem bildhaften Motiv des Todes, schon lange manifestiert im Totenschädel, umgeht. Kurator Harald Kimpel hat dazu Werke von 17 zeitgenössischen Künstlern im Marburger Kunstverein versammelt und arrangiert. Dazu legt er ein Begleitbuch vor.

Von boomhafter Beschäftigung berichtet der Ausstellungsmacher und inzwischen völliger Abnutzung des Totenschädels als vormaliges Symbol für Tod und dessen Schrecken. Wer wollte widersprechen in Kenntnis des ‚Jolly Roger‘ in der Flagge der Piraten, Totenkopftattoos, Totenschädel im Vereinszeichen der ‚Hells Angels‘, Gunter von Hagens ‚Körperwelten‘ oder Rekorderlös für den diamtenbesetzten Totenschädel von Damien Hirst. Aber halt, hier droht etwas durcheinander zu gehen. Der Diamantschädel von Hirst erregte Aufsehen als für 74 Millionen Euro verkauftes Werk auf dem Kunstmarkt. Dorthin zielt diese Marburger Ausstellung nicht. Ebensowenig soll der ‚Schädelkult‘ kulturgeschichtlich betrachtet werden. Diesem Unterfangen widmet sich zeitgleich eine Ausstellung in Mannheim.

Angesichts von Allgegenwärtigkeit des Totenkopf als längst dekorativ heruntergekommenen Motiv in der Alltagkultur und Warenästhetik will die Ausstellung ‚Hamlet Syndrom: Schädelstätten‘ aufzeigen, wie zeitgenössische Künstler mit dem Schädel umgehen. Besucher erwartet eine breit gefächterte Zusammenschau, wozu Arbeiten nicht weniger Künstler versammelt sind.

Wer Nekrophiles oder Moribundes erwartet, kann allenfalls bedingt fündig werden. Kaleidoskop ist übertrieben, doch offenbart der Rundgang vielfältige Sichtweisen, zitierende Annäherung und kühle Abstraktion. Dies gilt für die mehrheitlich zu findenden Werke der Malerei. Es begegnen Stilleben, monochrom-flächige Leinwand, ornamentiert, mehrere Künstler in Werkgruppen. Installationen und plastische Arbeiten, teilweise seriell, durchbrechen, lassen Besucher stocken und aufmerken.

Beim Betreten der Kunsthalle vexiert es zunächst. Linker Hand eine Vitrine, anatomische Sammlung, knöchern Präpariertes, animalische und menschliche Schädel und Schaubilder aus Exponat-Sammlung der Universität. Davor im Raum ein brusthoher Pallettenstapel – von oben herabgelassen oder nach oben bestimmt – fünf Schädel in Bronze, handgeformt, subjekthaft zerfließend, eine serielle Gruppe von Otto Fischer (Kassel) aus 2011.

Wer zunächst ebenerdig bleibt, gelangt zu der raumfüllenden Installation ‚Das Lager‘ von Josefh Delleg (Göttingen). Ein hölzerner Steg bietet Weg entlang roher Regale, mit Schädeln etagenweise belegt. In Gruppen arrangiert, hell-wächserne Schädel, viele. Auch bemalte Schädel, bis hin zu moorig-dunkel.  Diese Installation eröffnet und provoziert Wahrnehmung, Assoziation und Deutungssuche. Von Glühlampenlicht beschienen findet sich scheinbare Ordnung, akzentuiert mit angehängten Schildern. Dellegs Installation will mehrdeutig sein, gerät nicht zum Beinhaus noch assoziiert es unmittelbar die furchtbaren Lager. In solch gewollter Offenheit, vielleicht mehr noch in verbreiteten Wahrnehmungsmustern, bieten sich Betrachter viele Anknüpfungen. Je nach Alter, Gemüt und Nachrichtenlage mögen Shoa, Pol Pot, oder Srebeniza irrlichtern oder fern vergessen sein. Wer will, kann gar diese Installation als Angebot begreifen, unbefangen Umgang mit einer Schädelstätte zu erkunden.

Oben auf der Galerie eröffnet Jan Czerwinski (Uster, Schweiz) andere Wahrnehmungen und Deutungsmuster. Als Trinität gehängt findet dessen Schädel ‚Tanizaki‘, Öl auf Leinwand in akribischischer Manier (2011) sich neben der Überhöhung zum Planetarischen als ‚Viktor (Planet H)‘,  Öl auf Leinwand (2010), und eine flächig-konstruktive Reduktion als ‚Variation (Antonius)‘, Öl auf Leinwand (2010).
Flächige Malerei zur flüchtigen Schädelabbildung zumeist mit Acryl auf Papier in grober Pinselführung von Christian Stock (Wien) zeigt sich als wandfüllendes Arrangement, ehe im großen Saal Ausstellung sich entfaltet.

Stefan S. Schmidt (Marburg) belegt farbige gereihte Stoffbahnen mit dem Schädel in Serie (Öl auf Leinwand, 2008). Im Großformat kann Erich Lindenberg beeindrucken, monochrom, teils ornamenthaft strukturiert oder nur andeutend, dazu die Serie ‚Kleines Schädelbild‘ aus 2002. Ganz anders, beinahe schon tückisch, kommen zwei Rollbilder in Tapetenmanier von Franek (Berlin) daher. „It´s so funny“ (2009) zeigt den Schädel wiederkehrend als Kinderspielzeug auf Streifentapete und bei ‚Kinderspiele – paradiesisch 15‘ (2010)  zeigt er sich hinter bunten Blumenornamenten ähnlich zwei Kindern, kühl und bleich.
In drei Bodeninstallationen wird Olivier Heinry (Laval, Frankreich) im Raum inszeniert. Konfetti bedeckt Schädel aus Gips oder verlockend, souvenierhaft, die Serie ‚Coca‘ als schädelhafte Thermoplastgebilde, poppig-buntes Arrangement zu den Füßen. Irritieren können teils surreal inszenierte Stilleben von Jan Dörrie (Leipzig).

So vereint die Ausstellung ein gespreiztes Spektrum künstlerischer Sichtweisen von klassischer Darstellung bis zu flüchtig streifender Motivvariation und ironisch-anspielender Überhöhung. Ob nun der schieren Zahl der gezeigten Schädel zum trotz oder inspiriert von gebotener Vielfalt – Melancholie ist in dieser Ausstellung nicht angesagt, eher vertiefende Betrachtung.

Teilnehmende Künstler sind: Lindsay Compton (Berlin), Jan Czerwinski (Uster, CH), Josefh Delleg (Göttingen), Paul Depprich (Seeheim-Jugenheim), Jan Dörre (Leipzig), Otto Fischer (Kassel), FRANEK (Berlin), Olivier Heinry (Laval, Frankreich), Ralf Kerbach (Dresden), Erich Lindenberg (Erich Lindenberg Kunststiftung, Porza, Schweiz), H. Sebastian Pless (Halle), Norbert Pümpel (Götzis, Österreich), Peter Riek (Heilbronn), Stefan S. Schmidt (Marburg), Volker Stelzmann (Berlin), Christian Stock (Wien, Österreich), Bernd Zimmer (Polling).

Die Ausstellung ‚Hamlet Syndrom: Schädelstätten` geht bis zum 10. November.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr. Eintritt frei.
Öffentliche Führungen jeden Samstag 16.00 Uhr. Führungen für Schulkassen und Gruppen auch außerhalb der Öffnungszeiten. Anmeldung beim Kunstverein , Telefon 06421  25 882.
Begleitbuch Harald Kimpel (Hg) Hamlet Syndrom: Schädelstätten, Jonas Verlag, 17 x 17 cm, 128 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen, ISBN 978-3-89445-454-8, Ladenpreis 15 Euro

—> Fotoreportage von der Ausstellungseröffnung

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