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Die Macht im Staat und den Reichtum der Gesellschaft wieder dort hinzubringen, wo sie herkommen

Marburg 9.5.2012 (red) Zum diesjährigen 1. Mai hat zur Kundgebung auf dem Marburger Marktplatz der Politologe Prof. Georg Fülberth gesprochen. das Marburger. veröffentlicht diese Mairede als Gastbeitrag. Darin finden sich zentrale Einschätzungen zum Ganzen der politisch-ökonomischen Entwicklungen ebenso thematisiert, wie konkret Fragen und Perspektiven vor Ort angesprochen und aufgezeigt werden:

Liebe Anwesende, Kolleginnen und Kollegen!
Erster Mai in Marburg, im Herzen der Stadt, unter freiem Himmel! Nicht nur hier, sondern landauf und landab in ganz Deutschland, ja in der ganzen Welt treffen sich heute arbeitende Menschen, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, und ziehen Bilanz. Immer wieder werden am 1. Mai die lohn- und gehaltsabhängig Arbeitenden sich darüber austauschen, wie der Stand ihrer Auseinandersetzung mit dem Kapital aussieht und was das Kapital denn so treibt.

Das Kapital ist in den vergangenen Jahrzehnten arbeitsscheu geworden, und es neigt zu einer Art ökonomischer Zechprellerei.

Arbeitsscheu: Große Kapitalmassen meiden die Produktion und treiben sich lieber an den Börsen herum. Da lassen sich durch Kurssprünge saftige Renditen erzielen.

Prellerei: Wenn schon Arbeit, dann soll sie billig sein. Jüngstes Beispiel ist das lachhafte Angebot der Unternehmer im Tarifstreit der Metall-Industrie. Arbeiterinnen und Arbeiter sind fürs Kapital in erster Linie Kosten, die es zu senken gilt, zum Beispiel durch Automatisierung ohne Arbeitszeitverkürzung, durch Verlagerung von Jobs und Druck auf die Löhne. Verlängerung der Arbeitszeit ohne entsprechende Lohnerhöhung oder Beibehaltung bisheriger Arbeitszeiten bei Steigerung der Produktivität ist Aneignung unbezahlter Arbeit. Die wird gern genommen.

Es gibt eine Kehrseite. Wird Arbeit schlecht bezahlt, fehlt es an Absatz. Das mit der Spekulation geht einige Zeit gut, irgendwann nicht mehr. Dann stellt sich heraus, dass an der Börse keine Werte geschaffen werden können. Wenn das Kapital sich zu lange um anständig bezahlte Arbeit gedrückt hat, dann gibt es Blasen, und wenn die Blasen platzen, im Krach, haben wir die Krise.

In den vergangenen Jahren haben wir das erlebt. Immer dann, wenn zwischendurch eine Erholung eintritt, wie gerade jetzt, wird behauptet, die Krisen seien nur Ausnahmen gewesen, jetzt sei wieder alles normal. Das geht dann so bis zum nächsten Mal.

Leider müssen wir sagen, dass die Politik dabei mithilft. Wenn ich sage: die Politik, dann meine ich damit: alle. Alle, die in den vergangenen Jahrzehnten regiert haben.

Rotgrüne, schwarzrote und schwarzgelbe Koalitionen haben die öffentlichen Haushalte ärmer und die Kapitaleigentümer reicher gemacht. Sie haben die Sozialversicherungen den Kapitalmärkten geöffnet, Hedgefonds und Private Equity Fonds ins Land geholt und das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre heraufgesetzt.

Das Kapital hat sich für diese Dienstleistungen nicht lumpen lassen.
„Unternehmermillionen kaufen politische Macht! Finanzierung und Korrumpierung der Regierungsparteien durch die Managerschicht der ‚Wirtschaft’.
So lautet der Titel einer Broschüre aus dem Jahre 1953, herausgegeben vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Dies ist nun bald sechzig Jahre her. Die Regierungen kommen und gehen, und immer noch kaufen Unternehmermillionen politische Macht.
Und so müssen wir denn fragen: Was haben die arbeitenden Menschen vom Übergewicht des Kapitals? Ganz offenbar wenig bis gar nichts.

Regierung und der größere Teil der parlamentarischen Opposition klopfen sich selbst auf die Schulter, weil die Arbeitslosenrate gesunken sei. Die Wahrheit ist: die Mehrzahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze ist befristet. Leiharbeit nimmt zu. Wer heute alt ist, lobt inzwischen die Gnade der frühen Geburt, denn es ist absehbar, dass auf sehr viele derjenigen, die heute jung sind oder in der Mitte des Lebens stehen, Altersarmut in bisher nicht gekanntem Ausmaß zukommen wird.

Gewiss wird durch die niedrigen Lohnstückkosten der deutsche Export gefördert. Das führt aber dazu, dass andere europäische Länder, insbesondere im Süden, keine Chance mehr haben, ihre eigenen Industrien aufzubauen. Sie werden mit deutschen Waren überschwemmt, die sie oft gar nicht bezahlen können. Also folgt dem Warenexport der Kapitalexport: Kredite deutscher Banken. Und dann fragt sich, was das denn für Waren sind, die da aus Deutschland zum Beispiel nach Griechenland exportiert und mit deutschen Krediten finanziert werden. Den Menschen in Griechenland wird jetzt zugemutet, für ein Sparprogramm den Gürtel enger zu schnallen. Die Rüstungsexporte nach Griechenland, geliefert u. a. von ThyssenKrupp und Krauss-Maffei Wegmann und finanziert von deutschen Banken, sind aber nicht in Frage gestellt. Im März 2012 hat das schwedische SIPRI-Institut darauf hingewiesen, dass Griechenland nach wie vor der größte Absatzmarkt für deutsche Rüstungsgüter ist.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer:
Ein Grundsatz der Gewerkschaften war und ist immer auch die internationale Solidarität. Und deshalb gehört es sich für uns als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Deutschland, die demagogische Hetze gegen die angeblich faulen Griechen, Portugiesen und Spanier nicht mitzumachen, sondern den schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern in diesen Ländern, in den Betrieben dort, den Arbeitslosen dort, den Beschäftigten der Öffentlichen Dienste, deren Einkommen drastisch nach unten gefahren wird, unsere Solidarität zu bekunden und ihnen Erfolg in ihren Abwehrkämpfen, von deren Entschlossenheit wir uns manchmal ein Stück abschneiden können, zu wünschen.

Liebe Anwesende,
man könnte nun sagen: das ist aber ein ziemlich großes Rad, an dem da gedreht werden soll. Wir sind hier in Marburg und wir sollten vielleicht einmal vor der eigenen Tür kehren.
Tun wir das. Hier vor unserer eigenen Tür, ja im eigenen Haus liegt das Universitätsklinikum Gießen-Marburg und da sehen wir gleich zweierlei:

Erstens sehen wir den normalen Wirtschaftskrimi. Das zunächst noch selbständige Universitätsklinikum Gießen wurde in die roten Zahlen gespart, eine schwarze Null im Universitätsklinikum Marburg wurde auf dem Rücken der Beschäftigten erwirtschaftet: Verlängerung der Wochenarbeitszeit für neu Eingestellte. Eine CDU-geführte Landesregierung verkaufte das inzwischen fusionierte Universitätsklinikum Gießen-Marburg für schlappe 112 Millionen Euro an ein börsennotiertes Unternehmen, die Rhön-Klinikum AG. Der Kaufpreis, einige Investitionen, die Dividenden, die Erwartungen der Aktionäre auf Kurssteigerung und die Boni des Vorstands sollen wiederum zu Lasten der Beschäftigten und der Patientinnen und Patienten erwirtschaftet werden. Und jetzt wird Monopoly gespielt, mit Fresenius.

Was ist das? Das normale, ziemlich hässliche Gesicht des Kapitalismus; arbeitsscheues Kapital oben, Überstunden, Überlastanzeigen, lange Wartezeiten der Patientinnen und Patienten dort, wo die Arbeit gemacht werden muss: unten.

Etwas aber ist noch nicht normal, und das ist in Marburg passiert. Es gab und es gibt Gegenwehr: die Beschäftigten einhellig in Gießen und Marburg, beide Betriebsräte in Gießen und Marburg, die Gewerkschaften, ärztliches und nichtärztliches Personal vereint, Patientinnen und Patienten, und das könnten schließlich wir alle sein, kämpfen zusammen für die Rettung von Arbeitsplätzen und der medizinischen Versorgung.
Und alle wissen: es gibt nicht zu viele Schwestern, Pfleger und Ärzte, Kraftfahrer, Putzfrauen, Beschäftigte in der Wäscherei und in der Technik, wohl aber offenbar zu viele Berater und durchreisende Geschäftsführer und Eigentümer, es gibt zu viele und zu hohe Boni, zu hohe Gewinn-Erwartungen und Aktienspekulation. Dieser Kampf inzwischen einer ganzen Region macht Mut. Über das Klinikum reden wir ab sofort alle mit.

Mit angemessen großem Geräusch ist der idiotische Kurs der Privatisierung öffentlicher Güter, der in Deutschland seit dreißig Jahren betrieben wird, hier in Gießen und Marburg an die Wand gefahren. Der Taschenspielertrick des Herrn Bouffier mit seinem Fresenius-Deal sieht fast schon nach einem Akt der Verzweiflung aus. An einer Tatsache wird er nichts ändern können: Ob Rhön oder Fresenius oder sonst wer: Gesundheit und Arbeit der Vielen und Profite der Wenigen – das geht nicht zusammen, das muss ausgefochten werden.

Kolleginnen und Kollegen!
Wenn das nun ausgefochten werden muss, dann ist allerdings von vornherein illusionslose Klarheit erfordert. Keine Illusionen!

Öffentliches Eigentum, freigemeinnütziges Eigentum, Privateigentum an Krankenhäusern: das sind wichtige Unterschiede. Diese Unterschiede werden aber verwischt, wenn unter dem Druck des Kapitals die öffentlichen Hände zu Armenhäusern gemacht werden. Dann flüchten sie sich selbst in Privatisierung oder benehmen sich selbst wie private Arbeitgeber. Das heißt: Das Missverhältnis zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut muss beseitigt werden, vor allem durch eine gerechte Steuer-, Abgaben- und Verteilungspolitik. Beseitigung der öffentlichen Verschuldung durch Steigerung der öffentlichen Einnahmen und zwar zu Lasten der hohen Einkommen, nicht der niedrigen – hier liegt der Schlüssel für die Lösung vieler aktueller Probleme.

Zweitens: In Konflikten wie dem gegenwärtigen wird den Belegschaften, nicht nur im Klinikum, sondern überall, immer wieder einmal eingeredet, sie sollten sich doch bitte einmal auch den Kopf des Kapitals zerbrechen: demographischer Faktor, Globalisierung, Kostendruck: da müsse eben umstrukturiert werden, Co-Management zum Wohle aller, denn man sitze im selben Boot. Das sind letztlich nur Public-Relation-Tricks. Am Ende kommt dann immer der Druck auf die Arbeitskosten sowie Kalkulation von Rendite und Börsenkurs. Das Kapital zerbricht sich nämlich grundsätzlich nur den eigenen Kopf. Also sollten wir das ebenso machen.

Wer keinen langen Löffel hat, sollte erst gar nicht versuchen, mit dem Kapital Kirschen zu essen. Deshalb müssen sich die arbeitenden Menschen diesen langen Löffel erst einmal wieder beschaffen.

Wie kriegt man den? Zum Beispiel so:
In demselben Jahr 1953, als öffentlich beklagt wurde, dass Unternehmermillionen politische Macht kaufen, lebte hier in Marburg der Professor Wolfgang Abendroth. Und er hat noch im selben Jahre auf diese Feststellung geantwortet: in einem juristischen Gutachten mit dem Titel: „Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft“, herausgegeben vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes. In diesem Gutachten diskutiert Abendroth folgende Frage:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Artikel 20 Grundgesetz. Später fragte Matthias Beltz: Wo geht sie hin? Und lange vor ihm fragte Abendroth: wie bringen wir sie wieder dorthin, wo sie hergekommen ist?

Georg Fülberth neben GewerkschaftskollegInnen bei der Maikundgebung auf dem Marburger Marktplatz. (Foto Hartwig Bambey)

Also:
Die Macht im Staat und den Reichtum der Gesellschaft wieder dort hinzubringen, wo sie herkommen: das ist die Aufgabe. Dies geht nicht ohne die Gewerkschaften. Dafür müssen sie stark werden, und dafür dürfen sie auf kein Kampfmittel verzichten. Das erste Kampfmittel ist die Wiedergewinnung des Selbstbewusstseins.
Schluss mit der Verzagtheit! Wolfgang Abendroth ging 1953 weiter: zu den Kampfmitteln rechnete er den politischen Streik. Heute würde er wohl sagen: so schnell geht das nicht. Gewerkschaften müssen, um so kämpfen zu können, erst einmal wieder stark werden.

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ziemlich viel Holz und ein langer Weg. Und heute Mittag allein kriegen wir das auch nicht mehr geregelt. Wenn wir uns in einem Jahr, am nächsten Ersten Mai, hier wieder sehen, wollen wir erneut Bilanz ziehen darüber, wie weit wir auf diesem so notwendigen Weg gekommen sind.

Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir zugehört habt.

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