Beteiligungstage für das „Landgrafenschloss der Zukunft“

14.04.2024 (pm/red) Im Zuge des Projekts „Landgrafenschloss der Zukunft“ laden die Philipps-Universität Marburg und die Universitätsstadt Marburg alle Interessierten zu Beteiligungstagen am 19. und 20. April 2024 ein, sich mit Ideen und Wissen an der …

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Der Mut der einfachen Leute von Obergleen – Es muß doch etwas gemacht werden, damit wir unseren Pfarrer Weidig wieder kriege

Marburg 140818 Gastbeitrag von Ursula Wöll

Pfarrer Ludiwig Weidig in einer zeitgenössischen Darstellung

Pfarrer Ludiwig Weidig in einer zeitgenössischen Darstellung

Bis heute ist Obergleen im Vogelsberg mit seinen etwa 550 Einwohnern ein reizvoller Ort, weil die üblichen Gewerbegebiete am Ortsrand so gut wie fehlen. Wie eine Glucke schart die Kirche die Wohnhäuser um sich. In ihr hielt Pfarrer Dr. Friedrich Ludwig Weidig am 7. September 1834, also vor 180 Jahren, seine Antrittspredigt. Und sofort erregte er wieder Anstoß bei der Obrigkeit, denn er predigte von einem „Christus der Armen, der da Unrecht und Heuchelei der Mächtigen seiner Zeit bekämpfte“. Weidig war wegen seiner demokratischen Aktivitäten am 5. April 1834, also noch vor dem Druck des gemeinsam mit Georg Büchner verfassten ‚Hessischen Landboten‘, vom Dienst als Rektor und Pfarrer in Butzbach suspendiert worden. Im Spätsommer 1834 wurde er  in das abgelegene Vogelsbergdorf strafversetzt.

Am Freitag, dem 24. April 1835 schon, nach gut 7 Monaten, wurde er hier in seiner Wohnung verhaftet und frühmorgens in einer Chaisse über Grünberg und Hungen ins Arresthaus von Friedberg verschleppt. Er hatte sein Engagement für demokratische Verhältnisse nicht lassen können, war auch von Obergleen aus in Verbindung mit seinen Gesinnungsfreunden aus Butzbach, Giessen und Marburg geblieben und hatte eine zweite, in Marburg gedruckte Auflage des ‚Hessischen Landboten‘ initiiert.

Der Landwirt Johannes Oppertshäuser, 28 Jahre alt und wohnhaft in der Bilsengasse, wollte an jenem Freitag Brot backen und brachte um 6 Uhr Holz zum Backhaus. Dabei sah er, dass vor dem Pfarrhaus Gendarmen mit Pferden standen. Als er dann den Brotteig zum Backen brachte und nach dem Einschießen der Brotlaibe wieder nach Hause ging, um das Vieh zu füttern, „sah ich gerade den Pfarrer Weidig in den Wagen einsteigen“. Auch Katharina, 34 Jahre alt und Ehefrau des Feldschützen Müller, beobachtete die Verhaftung. Sie war früh auf den Beinen, „um dem Juden Aaron Rothschild eine Meßschuld zu bezahlen“.

Die Kirche von Obergleen heute, für nur kurze Zeit Dienstort für Ludwig Weidig. Foto Justus Randt

Die Kirche von Obergleen heute, für nur kurze Zeit Dienstort für Ludwig Weidig. Foto Justus Ranft

Trotz der kurzen Zeit seines Obergleener Wirkens wurde Weidig bei seinen ‚Schäfchen‘ ungeheuer beliebt. Als die Bevölkerung die für sie völlig unverständliche Verhaftung realisierte, unterschrieben 84 Männer des Ortes eine „unterthänigste“ Bittschrift an den Minister Du Thil. Das muss also – rechnet man Frauen und Kinder hinzu – der gesamte Ort gewesen sein. Die Einwohner wollten ihren Pfarrer zurück und baten um seine Freilassung. Nicht nur, weil die Konfirmationen ins Haus standen, sondern weil sie „nie einen besseren Seelsorger bekommen könnten und nie einen besseren gehabt haben…Weidig, der mit Rat und Tat den Bedrängten zu jeder Zeit beistand, verstand überhaupt in jeder Beziehung den Sinn für Gutes zu wecken und zu verbreiten….Wir leben in der festen Überzeugung, daß ein Mann von so tadellosem Wandel kein Verbrechen begangen haben könne.“

Viele der unterzeichneten Bittsteller wurden belangt und zu Verhören zitiert, selbst wenn andere für sie unterzeichnet hatten, weil sie selbst nicht (gut) schreiben konnten. Der Minister des Großherzogthums Hessen ließ den Bürgermeister Schaaf über den Umweg des Kreisrathes am 7. Mai wissen, „daß die Vorstellung (Bittschrift) als eine ungehörige Anmaßung betrachtet werde, worüber den Unterzeichneten ein ernstlicher Verweis zu ertheilen sei“. So weiß man denn nicht, wen man mehr bewundern soll: den Mut des Pfarrers Weidig und seiner tapferen, zur Zeit der Verhaftung schwangeren Frau Amalia oder den Mut und die Zivilcourage der Dörfler. An sie soll hier besonders erinnert werden, weil auch sie eine beispielhafte Rolle spielten, die über dem Blick auf den ‚Helden‘ oft übersehen wird. Sicher wussten sie, dass sie sich in den absolutistischen Verhältnissen weit vorwagten.

Über die oberhessischen Bauern wird kolportiert, dass sie gefundene Exemplare des „Hessischen Landboten“ brav bei den Behörden ablieferten. Ein solcher Fall wurde nicht aktenkundig. Hätte dann Weidig nochmal im November 1834 durch den Marburger Drucker Ludwig August Rühle 400 Exemplare nachdrucken lassen? Rühle erledigte den Auftrag ohne Wissen seines Chefs Elwert „in mehreren, mir sehr sauer gewordenen Winternächten“. Die Bauern aus Obergleen jedenfalls duckten sich nicht. Vielleicht war Weidig durch seinen aufrechten Gang bereits zu einem Vorbild für sie geworden?

Oder befeuerten die hohen Abgaben, mit denen der Darmstädter Hof und das Militär finanziert wurden, ihre Courage?  Aus den gerichtlichen Verhörprotokollen, die in den ‚Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, Reihe 14 vom 1. Juni 1990‘ abgedruckt sind, erfahren wir viel über diese mutigen Obergleener. Der Historiker Herbert Jäkel hat die Protokolle dort veröffentlicht. Aufmerksam auf diese wertvolle Quelle machte mich Helmut Meß, der Leiter des Kirtorfer Heimatvereins. Obergleen ist heute ein Ortsteil von Kirtorf, so dass man im Museum Kirtorf die von einem Schauspieler rezitierte Antrittspredigt von Weidig hören kann.

Georg Ruppert, 40 Jahre alt, der neben der Landwirtschaft eine Gastwirtschaft betrieb, war einer von 8 Gemeinderathsmitgliedern und wohl die treibende Kraft des Aufbegehrens, aber nicht er allein. Er sagte aus, dass das Gemeinderathsmitglied „Johannes Decher am Morgen des 25. April Wasser an dem in der Nähe meines Hauses befindlichen Brunnens holte und sich mit mir besprach, ob wohl nicht eine Vorstellung um Freilassung des Pfarrers Weidig eingereicht werden solle“.  Bald erschienen einige Männer  beim Bürgermeister Schaaf: „Es muß doch etwas gemacht werden, damit wir unseren Pfarrer wieder kriege!“

Gastwirtschaften sind seit je Stätten der sozialen Verständigung: In Rupperts Wirtsstube kamen nun am späten Nachmittag  an die 30 Ortsbürger  zusammen. Nicht nur, um das übliche samstägliche Glas Branntwein zu trinken, sondern „es wurde daselbst über die Verhaftung von Pfarrer Weidig gesprochen“. Man kam überein, eine Vorstellung (Bittschrift) an die Regierung des Großherzogthums Hessen zu schicken und dafür Formulierungshilfe beim Giessener Advokaten v. Buri zu suchen. Dietrich Böckner, 39 Jahre alt und Schumacher machte sich dafür mit Konrad Matthäus, 42 Jahre alt und Schreinermeister, auf den Weg nach Giessen. Weidig hatte dem Schuster einmal eine Bürgschaft für den Kauf von Leder geleistet. „Da ich ihm hierfür dankbar war, so habe ich auch, und weil er überhaupt ein guter Pfarrer war, gewünscht, dass er wieder nach Obergleen kommen möge.“

Das Grab von Grab Ludwig Weidig .Bildquelle Wikipedia

Das Grab von Grab Ludwig Weidig auf dem alten Friedhof von Darmstadt. Bildquelle Wikipedia

Um 1 Uhr nachts von Sonntag auf Montag kamen beide mit der Bittschrift zurück, die sie morgens in die Gaststube von Ruppert trugen, wo mehrere sie schon „mit Schmerzen“ erwarteten. Hier wurde der Text laut vorgelesen und im Lauf des Montag von den 84 Einwohnern von Obergleen unterzeichnet. „Es hat jedoch hierbei weder eine Überredung noch ein Zwang stattgefunden“, so Ruppert im Verhör. Doch die Petition hatte nicht den gewünschten Erfolg, sondern brachte den Unterzeichnern zahlreiche Vorladungen und damit Störungen der Feldarbeit.

Die Obergleener sahen ihren geliebten Pfarrer nie wieder, er wurde von Friedberg ins Gefängnis von Darmstadt gebracht und musste den sadistischen, alkoholsüchtigen Untersuchungsrichter Georgi ertragen, bis er Februar 1837 in der Haft starb. Ob durch Selbstmord, wird bis heute infrage gestellt.

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