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„Was in unserer Gesellschaft als wertvoll erachtet wird“ – Ausstellung von Selina Schwank mit Corona-Handicaps

Hinweisbanner am Zaun der Kunsthalle Willingshausen. Sternbald-Foto Hartwig Bambey

Kassel 13.08.2020 (yb) Dass Selina Schwank als 50. Stipendiatin in Willingshausen nach nur sechs Wochen Aufenthalt vor Ort vom coronabedingten Shutdown erwischt wurde, war Schicksal. So musste die junge Künstlerin aus Kassel abreisen, das von ihr eingerichtete Atelier räumen und musste zusehen, wie sie mit ihren Kindern zu Hause klar kam. Gleichwohl ist die Künstlerin in dieser Woche mit dem Aufbau ihrer – erfreulicher Weise nunmehr möglich gewordenen – Ausstellung in der Kunsthalle Willingshausen beschäftigt. Der Titel der Ausstellung auf dem Plakat „Halbe Tage“ deutet bereits an, dass es dieses Mal eher Ungewöhnliches, Unerwartetes und Unbekanntes zu Sehen und Wahrzunehmen gibt. Die äußerlichen Handicaps dieses Stipendiums haben Kurator Bernhardt Balkenhol veranlasst ein Interview mit Selina Schwank zu führen. Das Gespräch wird hier als Gastbeitrag veröffentlicht.

Bernhard Balkenhol im Gespräch mit Selina Schwank über ihr Arbeitsstipendium in Willingshausen in Zeiten der Corona Pandemie

B.B. Was war Deine erste Reaktion, als Du gehört hast, dass Dir das Arbeitsstipendium für junge KünstlerInnen in Willingshausen zugesprochen wurde?
Sch. Ich habe mich sehr gefreut. Es war für mich ein gutes Gefühl, meine Arbeit wertgeschätzt zu sehen, unabhängig von der Kunsthochschule und von Leuten, die mich kennen. Nach dem Studium stellte sich mir die Frage, ob und wie ich mit meiner künstlerischen Arbeit Geld verdienen kann. Zu wissen, dass ich mit dem Stipendium die Möglichkeit habe, meine künstlerische Arbeit weiterzutreiben, das war schon ein schönes Gefühl.
Gleichzeitig stand natürlich dann auch die Frage im Raum, wie ich den Arbeitsaufenthalt mit meinen zwei Kindern gestalten kann.

B.B. Was hattest Du Dir vorgenommen für dieses Stipendium?
Sch Eigentlich hatte ich viel vor. Ich hatte mir vorgestellt, dort in der Abgeschiedenheit auf dem Land zu den Dingen zu kommen, die im letzten Jahr, durch die Tatsache, dass ich meinen Lebensunterhalt verdienen musste in den Hintergrund geraten sind, vor allem das Lesen von theoretischen Texten, mein eigenes Schreiben und Zeichnen. Ich hatte auch recht viel mitgenommen, neben Büchern und Equipment auch meine Materialsammlungen, die ich zu Hause in Kisten verstaut hatte. Weil ich nach meinem Examen leider keinen Atelierplatz mehr hatte, war ich froh, wieder einen eigenen Raum zu haben und mich in meine Arbeit vertiefen zu können.

B.B. Ist es wichtig für Dich, einen Atelierraum außerhalb Deiner Wohnung zu haben?
Sch. Ja, richtig wichtig. Das habe ich jetzt auch wieder festgestellt, dass ist eigentlich kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Dort in Willingshausen ist mir dann auch besonders bewusst geworden, welche Begebenheiten ich zum Arbeiten eigentlich brauche. Ich habe mir das sogar mal aufgeschrieben, weil mir das vorher gar nicht so klar war.
Ich brauche einen Schreibtisch -oder besser sogar zwei- und eine Wandfläche zum Hängen von Bildern, Licht, auch Bodenfläche zum Auslegen von Dingen, WLAN.

Wenn es noch nicht um konkrete Entscheidungen geht, brauche ich auch gar nicht so viel Austausch, ich kann gut alleine sein.

B.B. Also ist Dein Arbeitsraum eher ein Denkraum?
Sch. So könnte man das nennen. Ein Denkraum, aber einer, in dem ich mich mit meiner künstlerischen Arbeit ausbreiten und Dinge auch mal liegen lassen kann.
Meine Arbeitsweise ist ein Gemisch aus unterschiedlichen Tätigkeiten, das geht von lesen, skizzieren, zeichnen, recherchieren, mal eben ein Bild, einen Text ausdrucken, über Musik hören und mit Leuten Gespräche über bestimmte Themen führen.
Es ist eigentlich eine dialogische Arbeitsweise und es passiert vieles gleichzeitig oder kurz hintereinander.
Und wenn das dann zu viel wird, gehe ich gerne raus. Das fand ich schon ganz schön dort auf dem Dorf, diese Ruhe und das Licht manchmal beim Abendspaziergang.

B.B. Und was ist Dein Thema, an dem Du gerade arbeitest?
Sch. Ich finde es immer schwierig, ein einzelnes Thema festzumachen. Etwas thematisch abzugrenzen. Das widerspricht mir eigentlich. Ich beschäftige mich z.B. schon sehr lange mit dem Naturbegriff, weil mich das auf ganz vielen Ebenen anspricht. Aber auch hier ist es eher ein Feld von Themen. Wie z.B. die Faszination für sogenannte „Naturphänomene“. Das ist die Oberfläche. Es geht mir eigentlich um ganz andere Sachen.

B.B. Soweit ich Deine Arbeit verstanden habe, geht es Dir eher um Strukturen hinter der sichtbaren Natur, nicht nur um Erscheinungsformen, sondern um Bezugssysteme und Hintergründe, Ursache und Wirkung.
Sch. Ja, genau. Aber auch um eine persönliche Ebene. So gibt es in meiner Abschlussarbeit einen Text, der beschreibt, wie eine Mutter mit ihrem Kind eine Plazenta vergräbt. In dem Text wiederum sind auch ganz andere Themen angeschlossen. Da geht es u. a. um Wahrnehmung, um Transformation und Wirklichkeitskonstruktionen und auch um den Bezug von etwas scheinbar Einzelnem zu einem größeren System.
Auf den Bildern, die ich in der Abschlussarbeit publiziert habe, sind viele im Alltag mit meinen Kindern entstanden. Nicht nur, dass sie manchmal Motiv meiner Fotografien sind, auch was ich mit ihnen mache, spiele und rede spielt da eine Rolle.
Wenn z.B. von Knete diese bunten Reste übrigbleiben, bei denen sich die Farben nicht mehr trennen lassen, da frage ich mich immer: was mache ich jetzt damit? Kommen die in den Restmüll oder behalte ich die? Und als was? Im Grunde ist man ja ständig damit beschäftigt Entscheidungen darüber zu treffen, was weg kann und was man behalten will, und das, was weg kann- wo kommt das dann hin?

Ich glaube, dieses Leben, das ich mit den Kindern phasenweise viel allein gelebt habe, das ist immer wieder ein Dialog, der mich zu anderen Themen, anderen Gedanken führt.

B.B. Was sind diese „anderen Gedanken“?
Sch. Heruntergebrochen ist es ein Nachdenken über die Welt und die Zeit, in der ich lebe, über gesellschaftliche Strukturen und Systeme, darüber, was in unserer Gesellschaft als wertvoll erachtet wird, über Verantwortung. Es wird auch immer mehr ein Hinterfragen und ein Dekonstruieren von gedanklichen, vorgegebenen Mustern. Und der Wunsch mich zu positionieren, eine Haltung einzunehmen.
Z.B. habe ich mir viele Gedanken über Verwertung und Konsum gemacht. Wo geht eigentlich unser Müll hin?
Was passiert mit all den kleinen Mikroplastikpartikeln die allein durch die Tatsache, dass ich meine Wäsche wasche, ins Grundwasser gelangen können?
Viele Verwertungssysteme sind ja ausgelagert und somit für die meisten von uns unsichtbar. Das täuscht darüber hinweg, dass sie existieren und dass wir auch eine Verantwortung dafür tragen.
Alles was wir tun und wie wir uns verhalten hat ja eine Bedeutung.
Es geht mir dabei aber nicht darum, zu moralisieren oder Betroffenheit auszulösen.
Es geht mir eher um eine Auseinandersetzung oder ein bewusst werden.

Auf einer 6-monatigen Reise, die ich 2012/2013 mit meiner Familie durch Spanien und Portugal mit einem Bus gemacht habe, hatten wir eigentlich alles dabei, außer einer Toilette. Das war ein wirkliches Problem.
Vielleicht muss man einmal mit seiner eigenen Scheiße konfrontiert sein, um das zu realisieren.
Dass man etwas hinterlässt, auch wenn man das vielleicht gar nicht will, dass man keine Kontrolle darüber hat.
Und dass man Teil von einem größeren Ganzen ist.

B.B. Du verstehst dich als Teil eines über dich hinausgehenden Organismus?
Sch. Ja, wo wir ja eigentlich schon wieder beim Thema Corona wären. Der Körper ist kein in sich abgekapseltes System, unsere Körper sind durchlässig und miteinander verbunden. Auch auf einer sozialen Ebene.
Im Grunde steht man als einzelnes Subjekt in einer konstanten Interdependenz zu einem System, einer Struktur. Aber das Einzelne sind auch immer viele. Und das große Ganze ist auch niemals abgeschlossen.
Alles ist im Prozess. Eigentlich ist man niemals „fertig“.

B.B. Du meinst, dass du auch Betroffene bist, nicht nur eine die eingreift, gestaltet?
Sch. Ja, das betrifft auch das künstlerische arbeiten. Es ist ja nicht so, dass ich eine Idee habe und dann setze ich die um und es wird genauso wie ich es mir vorgestellt habe.
Gestalterische und kreative Prozesse basieren ja auf einem Dialog. Mit bestimmten Inhalten, aber auch mit dem Material, mit Räumen und Settings.
Ich setze mich mit bestimmten Themen auseinander und dann kommt eben auch etwas auf mich zu. Das Material kommt auf mich zu. Und dann ist es so, wie du einmal gesagt hast, dass eine Ausstellung eben kein Endergebnis ist, sondern der Zustand, an dem man gerade ist mit der eigenen Auseinandersetzung. Es geht mir auch immer um die Spannung zwischen Handlungsfähigkeit und Ohnmacht. Und wie man aus einem Ausgeliefertsein wieder in eine Handlungsfähigkeit kommt. Und was oder wem ich mich ausliefere. Akzeptiere ich jetzt, dass sich das Papier wellt, ist das Teil meiner Arbeit oder mache ich mich auf die Suche nach anderem Papier? Ich bin eigentlich immer sehr dafür das Material mit einzubeziehen, das Material sprechen zu lassen.
Gerade habe ich eine solche Auseinandersetzung mit einer Papierarbeit, die ist so groß, dass ich alleine gar nicht mit ihr umgehen kann, ich brauche mindestens eine zweite Person die mir dabei hilft, sie aufzuhängen. Sie ist fragil, sie nervt, weil sie immer anders reagiert, als ich es erwarte, aber sie fordert mich auch heraus. Ich mag das.

Was mich auch inhaltlich immer besonders fasziniert, ist, dass bestimmte Materialien in verschiedenen Settings ungefährlich sind, in einem anderen aber hochgefährlich. Ich hatte z.B. lange Zeit Angst vor Asbest, aber gleichzeitig war ich fasziniert von der Struktur und der Schönheit des Minerals.

B.B. Hast Du auch Corona so wahrgenommen, ein nicht sichtbarer Virus, der dann plötzlich alles verändert und beeinflusst, und nicht nur dich persönlich, sondern die ganze Welt?
Sch. Ja, das war und ist schon beunruhigend. Ich bin jemand, die dazu neigt sich Sorgen über unsichtbare Gefahren zu machen, seien es Asbestfasern, Strahlung oder Schwermetallrückstände im Trinkwasser.

Und dann diese Unsicherheit, Sorge und Panik auch bei Menschen zu erleben, die ich eher als besonnen eingeschätzt hatte oder auch die sich überschlagenden Ereignisse in den Medien zu verfolgen. Das war schon eine vorapokalyptische Stimmung.
In Willingshausen habe ich mir dann Desinfektionsmittel in der Apotheke mischen lassen, in Kassel gab es keines mehr.

B.B. Hast Du das auch als eine künstlerische Herausforderung gesehen?
Sch. Ich fand es schwierig mit den sich ständig wechselnden Informationen und Situationen umzugehen. Ich konnte innerlich gar nicht so schnell reagieren.
Auf der einen Seite, war es natürlich interessant, wie sich die Wahrnehmung verändert hat, auch was z.B. diese Situation mit sozialen Beziehungen macht.
In Anbetracht der Tatsache, dass an Corona und in dieser Zeit Menschen ihr Leben lassen mussten, fand ich es jedoch schwierig, ein Gefühl davon zu bekommen, was jetzt eigentlich wichtig ist.

B.B. Welche konkreten Auswirkungen hatte Corona für Dein Stipendium?
Sch. In Willingshausen habe ich die Nachricht bekommen, dass alle Schulen schließen. Da war klar, dass ich auf jeden Fall nach Kassel zurück muss. Ich habe da schon einen Teil meiner Sachen mitgenommen, dachte aber: Jetzt bin ich vielleicht zwei Wochen in Kassel und dann fahre ich wieder zurück. Es war ja erstmal unklar, was passiert. Ich bin dann aber selbst krank geworden und war mit den Kindern für zwei Wochen in Quarantäne. Ich weiß jedoch nicht, ob es Covid 19 war, man konnte sich damals nicht testen lassen.
Im Endeffekt musste ich den Arbeitsaufenthalt in Willingshausen abbrechen.

B.B. Gleichzeitig warst Du dann doppelt von Corona getroffen, weil du deine zwei Kinder versorgen musstest, die nicht mehr in die Schule und die Kita gehen konnten. Wie haben Deine Kinder eigentlich darauf reagiert?
Sch. Die Kinder waren erstmal beunruhigt, weil ich beunruhigt war. Sie haben sich aber schnell an die Situation gewöhnt. Und als sich alles ein bisschen eingespielt hatte, sind sie ruhiger geworden. Eigentlich haben wir das auch genossen, soviel intensive Zeit miteinander zu haben.
Die Sehnsucht nach den Großeltern und Freund*innen, nach der Schule und einem Stück Normalität und Alltag war aber auch da. Es ist schon schwierig die Situation für Kinder zu vermitteln und erklärbar zu machen. Auch die sich ständig verändernden Verhaltensregeln.

B.B. War in dieser Zeit die Kunst nicht als Konkurrentin im Hinterkopf?
Sch. Ich kann aus dieser Zeit sehr viel ziehen für meine Arbeit, gleichzeitig ist es eine Herausforderung, die neuen Gedanken, Beobachtungen und Ideen Form annehmen zu lassen, einfach weil die Betreuungseinrichtungen und damit Zeit und Ruhe zum künstlerischen Arbeiten fehlen.
Den Anspruch, der an Eltern gestellt wurde, sie mögen Home-Office, mit der Betreuung und Beschulung ihrer Kinder vereinbaren ohne dabei Hilfe von außen zu beanspruchen fand ich absurd und nicht zu bewerkstelligen.
Bei mir kam dann noch zusätzlich das Thema Existenzsicherung hinzu.
Das Stipendium war vorbei und der Buchkinder Kassel e.V., wo ich vorher gearbeitet habe, musste erstmal schließen. Ich wusste zunächst gar nicht mehr, wie es weitergeht. Wie in der Öffentlichkeit breit diskutiert, sind Selbstständige bisher wenig unterstützt worden.
Nachdem ich mich informiert hatte, habe ich Grundsicherung beantragt. Erstmal bin ich an den ganzen Behördenformalitäten total abgeprallt, ich habe das als einen sehr demütigenden Prozess empfunden, meine Lebenssituation in den Form-und Zusatzblättern zu erörtern. Ich musste dem Job-Center z.B. den Beziehungsstatus zu meinem Ex-Partner und zu meinem Mitbewohner erklären.
Und ich spreche aus der privilegierten Position heraus, dass ich die Möglichkeit habe, mich emotional von dem Prozedere zu distanzieren. Wie geht es Menschen mit anderem Background oder ohne sozialen Support?
Der Bürokratie liegt ein völlig veraltetes Bild von Familie zugrunde.
Mit der Corona-Pandemie treten jetzt auch sozial-politische Fragen in den Vordergrund:
Was bedeutet Familie? Welchen Wert hat Fürsorge in unserem System? Welchen Abhängigkeits-und Machtverhältnissen sind wir ausgeliefert?
Mir ist bewusst geworden, dass das Private immer eine gesellschaftliche Relevanz hat und damit politisch wird.
Vom Job-Center wurde ich dann bevor ich überhaupt meinen Bescheid bekommen hatte telefonisch angefragt, ob man mich jetzt als arbeitssuchend deklarieren könne.
Die Arbeit als Kunst-und Kulturschaffende und Eltern wird in diesem System nicht als solche anerkannt.

B.B. Nach dem Motto: Sie sind selbst schuld, wenn Sie Kunst studiert haben?
Sch. Der Vorwurf, dass man selbst schuld ist, ist ja ganz krass im kapitalistischen Denken verankert, wo einem weißgemacht wird, man muss sich nur genug anstrengen, dann kann man es überallhin schaffen.
Aber wenn man von Schuld sprechen mag, dann liegt diese im System, in dem z.B. Care-Arbeit nicht wertgeschätzt wird.
In unserem System wird der Wert von etwas durch seinen Geldwert kenntlich gemacht.
Die Corona-Krise macht noch einmal deutlich: Unser System ist auf unbezahlte Care-Arbeit angewiesen.
Sie taucht aber in wirtschaftlichen Berechnungen nicht auf. Das macht sie unsichtbar.
Ich habe aus der Frustration heraus dann mal aufgeschrieben, wieviel Zeit ich eigentlich am Tag mit Haus und Care-Arbeit verbringe. Einfach um das mal sicht-und fassbar zu machen und nicht immer dem Gefühl ausgeliefert zu sein, was- denke ich- viele Eltern kennen: Ich komme zu nichts!
Ich habe ausgerechnet wieviel ich im Monat verdienen würde, wenn mir besagte Arbeit mit dem Mindestlohn (9,35 Euro) vergütet werden würde. Die Zahl, die dabei herauskam, lag über dem Betrag, der mir jetzt als Grundsicherung vom Staat zugeschrieben wird. Ich wäre also finanziell unabhängig.
Und in diesen Berechnungen ist die Zeit, die ich mit meiner künstlerischen Arbeit verbringe, noch gar nicht mit einbezogen.
Es geht in unserem Wirtschaftssystem permanent um Produktion und Wachstum, aber nicht um Reproduktion.
Ich frage mich: Wie würde unsere Welt aussehen, wenn all die unbezahlte Care-und Hausarbeit, die vor allem von Frauen tagtäglich erledigt wird, entlohnt würde?
Mit der Forderung „Wages for Housework“ sind Feminist*innen wie Silvia Federici schon in den 1970ern auf die Straße gegangen, aber getan hat sich nichts, nicht mal im Denken.
Ebenso bin ich für das bedingungslose Grundeinkommen.
Man muss aus der Vereinzelung rauskommen, sich miteinander solidarisieren und den bestehenden Strukturen etwas entgegensetzen.
Eigentlich sind die Verhältnisse untragbar.

B.B. Zurück zum Stipendium. Die Ausstellung musste ja abgesagt werden, soll aber jetzt Ende August stattfinden. Hast du eine Vorstellung, was du zeigen wirst?
Sch. Es ist jetzt alles ganz anders gekommen, weil es kaum ein Arbeitsaufenthalt war.
Aber meine Themen stehen immer noch, vielleicht mit Corona noch viel mehr.
Sicher ist, dass es eine Rauminstallation aus Objekten, Fotografien und Zeichnungen werden wird, wie ich es auch vorhatte.

B.B. Das Plakat zeigt dich, wie du dir die Augen zuhältst, eine sehr doppeldeutige Haltung. Das könnte ein Nicht-Hinsehen-Wollen sein oder ein In-Sich-Gehen oder auch wie Kinder das tun, die sagen wollen: Ich bin jetzt weg, was sie natürlich nicht sind, wenn sie sich nur die Augen zuhalten.
Sch. Eigentlich alles das. Man kann das unterschiedlich deuten. Einmal so: Ich bin weg, ich will mich jetzt gar nicht mit all dem auseinandersetzen, was auf mich zukommt. Es ist auch ein Verweis darauf, dass ich einfach schlecht sehe, an bestimmten Tagen so schlecht, dass ich kaum am Rechner arbeiten kann. Das Sehen ist ja ein wesentlicher Teil meiner Arbeit, das ganze Visuelle, die Wahrnehmung, das ist schon schwierig, wenn das dann wegfällt.
Dann aber auch eine Rückbesinnung auf eine Innerlichkeit, als könnte man in den Händen auch etwas sehen.
Meine jüngere Tochter hat das mal so formuliert: „Man kann z.B. das sehen“ und zeigte auf den Tisch, „und man kann das sehen, was man denkt“.

B.B. Und das Foto hat sie dann auch gemacht?
Sch. Nein, das hat meine ältere Tochter Zelda gemacht. Ich habe ihr erzählt, wie es aussehen soll.
Ein Foto, das ich vielleicht mit in die Ausstellung nehme zeigt ein Stück Bauschaum, das so aufgegangen ist wie ein Schwamm. Auf dieses Motiv hat Zelda mich in Willingshausen aufmerksam gemacht; sie ist dran vorbeigelaufen und sagte: Mama, fotografiere das doch mal für deine Ausstellung. Da musste ich lachen; sie weiß scheinbar genau, was ich interessant finde und welche Strukturen mich ansprechen.
Sie hat sich schon meine Wahrnehmung angeeignet.

B.B. Vielen Dank für dieses intensive Gespräch.

—>siehe Bericht >“Halbe Tage“ und weitreichende Perspektiven für die Kunst in Willingshausen<

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